Die große Flucht nach Europa ist eine Reifeprüfung für die Union. Die Union hat versagt. Diese Gemeinschaft ist nicht Brüssel, sondern sämtliche Mitglieds-Regierungen und deren Auftraggeber_innen: Das Volk (und die Lobbyisten). Eigenbrötler wie das nicht ganz vereinigte Königreich oder die Osterweiterungsweiten verhalten sich - außer beim Handel - nicht viel europäischer als früher. Die alten Ostblockhäuserblocks erhielten einen neuen Anstrich, das Ex-Great Empire neue Extrawürste. Vor dem "Brexit" verhandelt man noch geschwind die Einschränkung der Sozialleistungen für "EU-Ausländer_innen", also für EU-Mitbürger_innen.

Wackelndes Haus Europa oder Wie Gemeinschaft nicht funktioniert

Der immer schon schwächste (obwohl einer der reichsten) Pfeiler des europäischen Hauses wackelt und mit ihm die ganze Säulenhalle. Im renationalisierten Oligarchen-Osten gafft man mit unverständlicher Vorfreude auf die Risse in der Decke. Aber es heißt nicht alles Ungarn, was die Meinungsfreiheit bedroht. In Spanien, das so lange faschistisch regiert wurde, werden kritische Künstler_innen heute durch ein Antiterrorgesetz schikaniert. In England wird man - Zivilisation sei Dank - nur bankrott verklagt, wenn man sich all zu kritisch äußert. Davor schützt auch der Speackers Corner nicht.

Und schon denkt man in Österreich darüber nach, die EU-Freizügigkeit einzuschränken. Als wären 100.000 deutsche "Gastarbeiter" ein Problem. Man meint allerdings eh die anderen, die aus dem besagten Osten, obwohl das weit weniger sind. Dabei müssten gerade die mitregierenden Sozis wissen, dass Arbeismigration 1) das Gegenteil von problematisch ist. Es ist eine Wachstumvoraussetzung. Man kommt und geht gerade innerhalb der EU mit den zu besetzenden Stellen, zahlt ins jeweilige Sozialsystem ein. 2) Kann man sich nicht die Rosinen herauspicken und den Anderen am Tisch einen zerstörten Strudel überlassen. So funktioniert Gemeinschaft nicht.

So funktioniert nicht einmal das Rosinenpicker-Reich einer Queen. England will eine Insel sein, Schottland aber nicht. Premier David Cameron kommt seit dessen Unabhängigkeitsreferendum nicht mehr aus dem Schwitzen. Ausgerechnet er, der bei jeder Gelegenheit seinen Mittefinger Richtung europäischer Einigkeit recken würde, wäre er nicht so verdammt britisch. Er muss jetzt vor einer näher rückenden "Brexit"-Möglichkeit warnen, die er selbst groß-maulend ermöglichte, als er nach antieuropäischen Stimmen angelte. Dabei scheint er paranoid zu werden: "Ohne EU kommen die Terroristen!" Die sind auch für alles gut.

Der Zaun ist wurscht

Nein, die Freizügigkeit, die offenen Grenzen Europas sind nicht das Problem. Sie sind auch nicht die Lösung. Ein Zaun vor dem Haus ist kein Schutz vor Armut auf den Straßen. Ein fehlender Zaun auch nicht. Warum reden wir also über bescheuerte Zäune? Wir müssen hinaus und den wahren Problemen entgegen gehen. Wir müssen über die Grenzen hinaus blicken, auch um unsere eigenen Probleme besser zu verstehen.

Vergessener Fluchtgrund

Worüber in der öffentlichen Flüchtlingsdebatte kaum gesprochen wird: Kurz bevor die große Bewegung aus den Krisengebieten nach Europa einsetzte, die wir, im Gegensatz zu den unmittelbaren Nachbarländern, erst im letzten Jahr zu spüren bekamen, mussten WFP und andere Hilfsorganisationen die Essensrationen in den Flüchtlingslagern halbieren. 2015 versprachen die reichsten Industriestaaten zwar, wieder mehr zu zahlen, aber da waren Hunderttausende bereits längst in Bewegung: Flucht nach Flucht. Die Situation in den unterversorgten und überfüllten Lagern scheint sich bis heute nicht verbessert zu haben. Währenddessen jammern im reichen Deutschland satte Sachsen über zwei Dutzend Asylsuchende in ihrem Dorf. Heime brennen, die von ihren Steuern eingerichtet wurden. Sie behindern die Feuerwehr und applaudieren. Es brennt auch in reicheren Gegenden Deutschlands. Es brennt mittlerweile sogar in Österreich ein Roma-Zeltlager.

Was unmoralisch ist, ist auch nutzlos

Was bringt's? Nix. Außer mehr Kosten. Wogegen "das Volk" nicht protestiert sind zehntausende Briefkastenfirmen über die hunderte Milliarden an Steuergeldern uns allen jährlich entwendet werden. "Gestohlen" kann man nicht schreiben. Diese Hinterziehungen sind legal, auch dank des gegenwärtigen EU-Kommissionspräsidenten. Das Wachstum in der Eurozone konnten diese Quasi-Steuerbefreiungen, für gewisse Unternehmen, nicht ankurbeln. Wie auch? "Ewiges Wirtschaftswachstum" ist der Irrglaube der Pseudoökonomie. Unsere europäischen Regierungschefitäten glauben dennoch daran. "Das ist alternativlos" merkeln sie. Deshalb kennt "das Volk" auch keine Alternative, mit seinem Frust und seinen (Zukunfts-)Ängsten umzugehen, als die jeweils Schwächeren verantwortlich zu machen und dafür zu attackieren.

Kriegsgewinnler

In dieser blinden Angst kauft man z.B. (ausgerechnet) in Wien immer mehr Schusswaffen für den Hausgebrauch. Man fördert also jene Unternehmen, die auch dank des syrischen Weltkriegs zur Zeit wieder sehr gut verdienen. Vor dem Krieg fliehen Menschen, vor denen man sich dann fürchtet und mehr Waffen kauft. Und wenn Sie das nächste Mal im Starbucks überteuertes Kaffeewasser schlürfen, während sie auf ihrem I-Phone Amazon nach den neuesten Markenturnschuhen durch-googlen: Halten Sie doch einmal inne und überlegen Sie kurz, warum die Regierung die Mindestsicherung kürzen will.

Warren Buffet spricht vom Krieg der Reichen gegen die Armen. Seine "Klasse" würde ihn gewinnen. Ich glaube hingegen, dass sie schon gewonnen hat. Was auch immer die europäischen Regierenden an Problemlösungen anstreben, sie vermeiden es stets, die Reichsten mit in die Verantwortung zu nehmen. Stattdessen wird von den jeweils Oberen auf die jeweils Unteren getreten. Wir bewegen uns dabei in die falsche Richtung. Die Unteren finden jedoch weder Mut noch Einigkeit, um zurück zu treten. Sie finden hingegen Demagogen und Populistinnen, die sich als falsche Heilsbringer anbieten. "Das Volk" lässt sich von oben, hinten und vorne verarschen, fühlt sich aber von noch weiter unten bedroht.

Unmoral ist sauteuer

Statt vernünftige Regeln für die Märkte und einem Spekulationsverbot gibt es volkswirtschaften-vernichtende Sparpakete und Bankenrettung durch Steuerzahler_innen kaputtgesparter Staaten. Statt intelligenter Entwicklungshilfe und ausreichenden Hilfsgeldern werden die Märkte der Armen mit Abfallprodukten des Westens überschwemmt und wenn sich auch deshalb daraufhin die Flüchtlingslager füllen, halbiert man ihnen auch noch die Essensrationen. Statt europäischer Solidarität bei der Flüchtlingshilfe denkt man über geschlossene Grenzen nach, die im Handel einen vielfachen Milliardenschaden anrichten würden, zusätzlich zu den Milliarden, die man der Türkei leihen will, damit sie uns das Flüchtlingsproblem abnehme. Aber trotz dieser Kosten denkt man nicht darüber nach, ein faires Steuersystem in Europa einzuführen. Lieber verschenkt man noch mehr Milliarden an Konzerne. Lieber erlaubt man Banken, uns unsere eigenen Euros von der EZB zu höheren Zinsen weiterzu-"verleihen" (auch ein Nachteil gegenüber Nicht-Eurostaaten wie GB). Lieber will man, nach anderen Sozialleistungen, die Mindestsicherung kürzen, was relativ nix bringt, außer weiteren Schaden an Menschen und Konsum und Arbeitsmarkt.

Es werde Licht...

Europa - das europäische Volk - braucht eine neue Revolution der Aufklärung. Wir haben uns an unsere Rechte und Freiheiten gewöhnt. Wir verstehen sie nicht mehr. Wir sind unmündig geworden, weil wir die Probleme, die Ungerechtigkeit nicht mit ausreichend vielen Mündern an- und aussprechen; weil wir die Lösungen eben nicht als "Volk" denken und formulieren können. Während die Lobbyist_innen im Parlament ein und ausgehen, stehen wir bestenfalls als Tourist_innen davor. Und dieser Tourismus pflegt heute eine romantische Liebesbeziehung zu Monarchen und Feldherren, die frühere bürgerliche Erhebungen nur mit brutalster Waffengewalt unterdrücken konnten. Das wird übertönt vom Radetzky-Massenmörder-Marsch. Oder vom Sissi-Musical. Deren Mann einen Weltkrieg anzettelte, gerade als das Volk sich zu demokratisieren begann. Wie wär's mal mit einem Viktor Adler-Musical?

Der kämpfte dafür, dass wir heute nicht mehr von anderen unterdrückt werden. Deshalb machen wir es selbst.

...sonst bleibt's finster

Wir verblöden vor Internetlisten der besten Kaugummi-Auf-Schuhabsatz-Szenen aller Zeiten, vor TV-Shops mit Nahrungsmittelzellen umstülpenden Verjüngungsmixern, vor Astrologinnen die Astrologie machen. Wir wählen politische "Fachtrottel", die mit Freunderlwirtschaft und Arschkriechertum innerhalb ihrer Parteien groß geworden sind. Die Berufspolitik ist eine Wirtin, die aufsperrte, um ihre eigene beste Kundin zu werden. Der darauf antwortende Populismus ist ein Arzt der Krankheiten erfindet. Das nennen die dann Profi-Sein. Deshalb muss die Politik wie die Macht wieder (im Sinne der Verfassung) "vom Volke" ausgehen, von Menschen die Politik der Politik wegen und nicht von berufswegen betreiben. Die EU kann nur bestehen und sich entwickeln, wenn seine Bürger_innen zu einer europäischen Gemeinschaft, zu einer Zivilgesellschaft zusammenwachsen, anstatt sich in kleingeistigem Nationalegoismus gegenseit zu übervorteilen. Es kann nur eine Europäische Union der Bürger_innen geben. Alles andere wird zu einem Fleckerlteppich der Oligarchen, globalen Geldstaubsaugern und opportunistischen Speichelleckern. Wir müssen von der Couch aufstehen und als freie, denkende Menschen für dieses Europa des Friedens, des Wohlstand und der Freiheit kämpfen*. Wieder und immer wieder. Denn die unfreien, gedankenlosen Menschen schlafen nicht. Im Gegenteil, sie sitzen längst beim Frühstück und rülpsen Gift.

*Kämpfen: Mit friedlichen Mitteln, nur damit kann man Frieden stiften; so wie Aufklärung nur vom Aufklären kommen kann und Wohlstand von der Wohltat gegenüber anderen (nicht der Reduktion auf Wohltätigkeit durch andere).

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MarieRedelsteiner

MarieRedelsteiner bewertete diesen Eintrag 26.02.2016 07:05:00

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