Europa und Erdogan: Demokratie stört die Diplomatie

Es passiert selten, dass ich Reimund Löw, in seiner außenpolitischen Falter-Kolumne nicht zustimme. Und ein wenig hat er schon Recht: Im Umgang mit der Türkei verlor Europa sein diplomatisches Fingerspitzengefühl. Vermutlich weil die Finger bereits wund sind. Ich versuche (mir selbst) zu erklären, warum ich das als Wohltat empfinde.

Alles vergessen? Nach dem Putschversuch...

Zunächst erscheint die Sorge irritierend, dass Europa die Lage in der Türkei verschlimmern würde oder beinahe verschlimmert hätte, weil es während und nach dem Putschversuch sich nicht ausreichend mit Erdogan solidarisierte (sondern kritisch blieb). Hierbei wurde offenbar vergessen, dass es bereits vor dem Putschversuch zu antidemokratischen Maßnahmen durch die Erdogan-Regentschaft kam, dass er sich zuvor schon vermehrt an Putin und weniger am "Westen" orientierte. Die gefährlichen Machtspiele in Syrien, die eigennützige Stärkung des Präsidentenamtes, die massive Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit, die gewaltsame Niederschlagung oppositioneller Demonstrationen, die Sabotage der eigenen Friedensverhandlungen mit den Kurd_innen und das Schüren eines Bürgerkrieges im eigenen Land - all das hat nicht Europa verursacht.

...ist wie davor - nur schlimmer

Diese Untaten Erdogans begannen auch schon vor dem "Flüchtlingsabkommen". Nach dem Putschversuch erreichten sie ihren bisherigen Höhepunkt. Die Behauptung, dass es noch schlimmer gekommen wäre, wenn die Putschisten gewonnen hätten, ist reine Spekulation. Sie hatten militärisch keine Chance. Und Erdogan, der "gewählte Präsident", den sie angeblich jagten, war unauffindbar im Urlaub. Der Versuch wurde international verurteilt. Das war Erdogan aber zu wenig. Hätten "westliche" Chefitäten aber mehr getan, wären sie in Gefahr geraten, als Statist_innen instrumentalisiert zu werden, in etwas, das man - spekulativ - für ein Karagöztheater halten könnte.

Und jetzt? Nach all dem, was dieser Mann bereits anrichtete, soll der Putschversuch alles vergessen machen? Armer Möchtegerndiktator braucht unseren Trost, ein Generalpardon? Damit er nicht zu dem wird, was er schon längst ist? Der islamistische Putinverschnitt vom Bosporus!

EU-Beitritt als Leckerli: Bereits gegessen

Nicht nur Löw schlägt vor, man solle den EU-Beitritt der Türkei weiterhin in Aussicht stellen, wie ein Leckerli, damit er wieder artig würde, der böse Recep. Dabei kritisierte dieser selbst, unlängst in einem Interview, wie die EU die Türkei immer nur hinhalte. Sie solle endlich klar sagen, ob sie den türkischen Beitritt wolle oder nicht. Ob also der Verführungstanz auf Eierschalen, mit der EU-Mitgliedschaft als Lockmittel - die der rationalere Teil des erdoganschen Wesens seinem Volk immer noch wünscht - immer noch hinhauen könnte? Sieht immer weniger danach aus. Und das liegt nicht nur an EU-Außen-Hardlinern, sondern gerade am inneren Macht-Boost, den der Putschversuch dem System Erdogan verlieh.

Was hilft's also, wenn der demokratische Westen erneut das Gleitgel auspackt? Erdogan würde jeder Einschleimversuch am hoheitlichen Gesäß vorbei gehen. Ihn stärkt jede Rolle der EU: Als Feindbild, das die Einmischung wagt, zur nationalistischen Empörung. Oder als liberales Weichei, das vor der Glorie des großen Präsidenten in die Knie geht, um zur Versöhnung... ja, was anzubieten? Die EU-Mitgliedschaft? Nicht einmal Ungarn oder Polen hätten heute - aus demokratischer, EU- und menschenrechtlicher Sicht - eine Chance reinzukommen, wenn sie nicht schon drinnen wären.

Die Verdrossenheit lächerlich gemachter Demokratien

Der Klügere gibt nach, heißt es. Das tut der Klügere aber nur dann, wenn er sich dabei nicht selbst aufgibt. Der demokratische "Westen" baut unmenschliche und anitdemokratische Diktaturen mit auf. Entweder, weil er von ihren Rohstoffen abhängig ist oder weil er - im geopolitischen Konkurrenzkampf der Supermächte - den Tyrannen der Konkurenten durch seinen eigenen Tyrannen ersetzen will. Das Einzige, dass diesem Verrat an der Demokratie Einhalt gebieten kann, sind demokratische Zivilgesellschaften, die ihren Regierungen genau auf die Finger schauen und jedes antidemokratische Verhalten anklagen.

Die so gennante "Politikverdrossenheit", die unsere Zivilgesellschaften lähmt - und zu Dummheiten wie dem "Brexit" führt - ist eine Demokratie-Verdrossenheit. Generationen müssen mit ansehen, wie die ausgekauten "westlichen Werte" verkauft werden, sobald es opportun erscheint. Wie soll auf diese Weise Demokratie noch ernst genommen werden? Welchen Wert, welchen Sinn hat sie, wenn wir sie nicht als universales Gut verstehen, sondern wie ein verschwitztes T-Shirt im Wäschekorb der Diplomatie verschwindet lassen, sobald ein systemfremder "Staatsmann" erscheint, den man nicht mit unseren höchsten Idealen beleidigen will. Die Demokratie wird lächerlich gemacht, wenn die "Vertreter" eines demokratischen Volkes (wie FPÖ- und BZÖ-Mitglieder) auswärts Diktaturen loben.

Der Klügere gibt nach, aber nicht auf

Der "Klügere", der nachgibt, ist oft nur der Schwächere. Angeblich sollte ein Kuschelkurs mit Ankara auch den Demokrat_innen in der Türkei helfen. Wir sind freundlich, dann tut er den Journalist_innen nichts? Ihn zu umschmeicheln, bedeutet aber, den Kerkermeister der verbliebenen türkischen Demokrat_innen zu unterstützen. Es würde deren Leiden wie Erdogans Macht nur "westlich" legitimieren. Und die EU - als Bollwerk der Demokratie und Freiheit - würde sich ein weiteres Mal diskreditieren, lächerlich machen. Es war bereits vor dem Flüchtlingsdeal klar, dass Erdogan kein verlässlicher Partner ist. Mit unserer Freundlichkeit erreichen wir nur einen freundlicheren Erdogan, auf den aber weiterhin kein Verlass ist.

Ich wünschte, Journalist_innen würden sich öfter trauen, auf die Gegenfragen ihrer Interviewgäste zu antworten. Erdogan fragte, was die Deutschen getan hätten, wenn das Reichstagsgebäude (von Deutschen, Anm.) bombardiert worden wäre. Richtige Antwort: Sie hätten die Schuldigen verfolgt und vor Gericht gestellt; und nicht Reporter_innen verschwinden lassen, die darüber berichten oder Richter_innen, die darüber richten.

Das schlechte Gewissen haben die Falschen

Es Zeit für klare Bekenntnisse zu Demokratie, Freiheit, Menschlichkeit. Weltweit. Die Fronten ziehen sich auch quer durch Europa, das immer noch genug Altlast abzuarbeiten hat. Wir sollten uns nicht mehr mit weniger zufriedengeben. Wir sollten uns auch kein schlechtes Gewissen einreden lassen, wenn ein Diktator - Möchtegern oder nicht - und sein orchestriertes Volk sich beleidigt fühlen, weil wir Rechtsstaatlichkeit einfordern. Und mit "wir" meine ich natürlich unsere Regierungen. Wie könnten sie etwas anderes einfordern?

Die Tatsache, dass ein Machthaber nicht der einzige mit Macht in seinem Land ist, bedeutet nicht, dass man ihn nicht "Diktator" nennen dürfe, wenn er der Avatar eines überautoritären Systems ist (kein Diktator agiert allein). Raus mit der Sprache! Man kann nur aus demokratischer Sicht Tyrannisches, Antidemokratisches erkennen. Als Demokrat_innen haben wir das Recht und die Pflicht dazu. Wir müssen nicht mit fremden Zungen sprechen. Und das gilt auch für unsere gewählten "Repräsentant_innen". Schluss mit der Popokriecherei! Der Pragmatismus, den sie verspricht, ist eine leeres Versprechen, das sich niemals erfüllen wird. Diktatoren benötigen - im Gegensatz zu demokratisch gewählten Regierenden - keinen demokratischen Zuspruch für ihren Machterhalt. Und wer mit dem Kopf im Hintern eines Tyrannen steckt, kann nicht von Demokratie sprechen.

Und ich kann nichts versprechen

Vielleicht irre ich mich auch, bin zu idealistisch, zu romantisch, zu ungeduldig. Vielleicht müssen wir scheinheilige, doppelmoralische Opportunisten bleiben. Was kümmern uns die Anderen? Hauptsache wir haben Freiheit? In Diktaturen gibt es Rohstoffe, freiere Waffenmärkte, oft viel Sonne, günstigen Urlaub und junge Sexsklav_innen, die fast alles mit sich machen lassen. Vielleicht müssen wir den Antidemokraten schöne Augen machen, um in irgend ein Geschäft zu kommen; oder einfach nur abnicken und lächeln, damit wir zumindest unsere Ruhe haben? "Wir" - die uns vertreten. Sollten wir es ihnen überlassen, Missstände und Verbrechen zwar anzusprechen, aber realpolitisch trotzdem zu ignorieren? Während man die Kritik den Satirikerinnen und Kabarettisten überlässt (Arbeitsteilung)? Vielleicht. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich dabei mitmachen werde.

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Jake Ehrhardt

Jake Ehrhardt bewertete diesen Eintrag 19.08.2016 19:03:42

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