Das große Geschäft vor dem Sommerloch

Als chronischer Klugscheißer muss ich noch unbedingt etwas fallen lassen, bevor ich mich in den Urlaub schleiche und uns das Sommerloch verschluckt. Das Internet ist die größte Gerüchteküche der Menschheitsgeschichte. Der Tratsch wurde globalisiert. Und es entsteht ein virtueller Raum, in dem Dinge gedacht, gesagt und verbreitet werden, von denen ich annahm, sie wären in Europa mit der Inquisition, Ende des 18. Jahrhunderts, ausgestorben. Oder wenigstens mit dem Ende des 2. Weltkriegs.

Exorzimen gegen Ismen

Es riecht überall ein wenig nach Vermittelalterlichung. Und das liegt sicher nicht nur an Game of Thrones. Es liegt an untoten Vorurteilen, an Aberglauben, Wissenschaftsfeindlichkeit und Antihumanismus, was gerade im und durch das Internet sichtbar wird. “Chemtrails” steigen selbst österreichischen Nationalratspräsidenten zu Kopf (und ich meine nicht den Karlheinz). Ein amerikanischer Prediger betreibt Exorzismus via Skype. Und das alte “Hexe, verbrennt sie!” findet viele Äquivalente in Äußerungen frauenfeindlicher Shit-Sturmtruppen.

Die Ursachen dessen liegen dabei nicht nur an einer unverschuldeten Abwesenheit von Bildung. Man trifft auf Menschen, die sogar stolz sind auf ihre bewusste Ablehnung menschlicher Vernunft bzw. jeglichen geisteskulturellen Fortschritts. Von denen sind nicht alle Politikerinnen. Viele sind auch Wirtschaftsexperten. Und immer öfter tragen es auch die “normalen” Menschen vor sich her wie einen ehernen Schild vor der verletzten Seele, dieses ang'fressene Gutheißen der eigenen Schlechtigkeit: “Einmal möchte ich ein Böser sein...”

Ja, einmal möchte man irrational sein dürfen, rassistisch, sexistisch, faschistoid, feindlich gegenüber diversen Andersartigkeiten. Einmal möchte man so richtig aus der EU aussteigen, auch wenn man es im Nachhinein vielleicht bereuen sollte. Zugleich lehnt man sämtliche Ismen ab, die einem vorgeworfen werden. Das sind schließlich die Begriffe der blöden Studierten. Und ist ein blöder Studierter selbst willig bös, glaubt er selbst imun gegen Ismen zu sein, allein weil er weiß, was sie bedeuten. "Ich weiß ja eh..."

Relative Kinder in Afrika

Ich zitierte einen EAV-Song. Warum will da einer eine miese Sau werden? Weil er von der Welt mies behandelt wird, es jedenfalls so empfindet. Es bringt nichts, dagegen einzuwenden, dass es uns in Europa verhältnismäßig gut ginge. “Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie bei uns im Niedriglohnsektor bei “flexiblen” Arbeitszeiten regelmäßig unterbezahlte Überstunden machen dürften.” Man könnte auch sagen: “Sei froh, dass du keine unbezahlte Praktikantin bist.”

Es gibt immer jemanden, dem es noch schlechter geht. Wenn uns das bewusst wird, sollten wir uns gefälligst besser fühlen. Nicht mitfühlen mit den afrikanischen Kindern! Sondern besserfühlen!

Deshalb will man reich werden. Je reicher man ist, umso mehr gibt es aus eigener Sicht, denen es schlechter geht als einem selbst, unzählig viele sogar. Das macht das eigene Glück unermesslich - also nicht mehr wahrnehmbar. Alles eine Frage der Relationen. Sagen jene, die sich besonders viele Relationen leisten können.

Menschen, denen es persönlich schlecht geht, sind die Relationen allerdings wurscht. Und wenn es vielen persönlich schlecht geht und die treffen sich alle im Internetz, um in ihrem Frust andere zu beschimpfen und zu bedrohen, um sich gegenseitig darin zu bestärken und zu legitimieren, als gebe es außer dieser Rache an der Welt keine andere Gerechtigkeit? Relativieren wir dann immer noch? “Sein wir froh, dass die bei uns nur die Rechtspopulisten wählen! Die Kinder in Afrika hätten schon längst geschossen.”

Da beissen sich die Intellektuellen ins eigene Hirn

Man darf sich auch nicht aufregen, dass die Kinder in Afrika, aus Afrika herauskommen, zu uns, wegen dem ganzen Elend dort. Die Intellektuellen erklären, dass wir selbst daran schuld sind. Sie erklären aber zugleich, dass das fremde Elend letztlich die selben Ursachen hat wie unser eigenes, wenn auch geringeres Elend. Und dass wir für die Politik nichts könnten, aber schon auch, weil wir sie ja gewählt hätten. Außerdem beruhe unser moralischer Vorsprung, all unsere Rechte, auf unserem Wohlstand und dieser wiederum auf Ausbeutung und Elend. Unser Wohlstand sei also schlecht. Aubeutung und Elend seien falsch. Dennoch sollten wir den Ausgebeuteten und Elenden aus Afrika oder sonst wo die selben Menschenrechte gewähren wie uns, ihnen Wohlstand zukommen lassen, obwohl die noch niemanden erfolgreich ausgebeutet haben, zumindest nicht so erfolgreich wie wir.

Also worüber aufregen? Über entfernt verwandtes Elend, das uns teilweise selbst betrifft? Über Ursachen, die teils in unseren Händen lägen? Wenn wir uns nur ausreichend aufregen würden? Wohlstand führe zur Moral, aber der Wohlstand geht von Ausbeutung aus? Darum sollten wir Moral fordern und austeilen, aber keinen Wohlstand? Oder vielleicht sehen wir zwar die Fakten richtig, aber die Zusammenhänge falsch und der Krieg ist gar nicht der Vater aller Dinge, weil die tollen Dinge immer nur von jenen erfunden werden, die nicht mit in den Krieg mitziehen müssen (weil sie so tolle Dinge erfinden können)? Und würde man sie machen lassen, ohne einen Krieg, sondern lediglich dem Frieden, Wohlstand und Nutzen für alle als Vorwand?

Und vielleicht kommt die Moral doch vor dem Fressen, weil es ohne vernunftbegründete Solidarität einer Gesellschaft nicht genug zu fressen gibt - auf Dauer selbst dann nicht, wenn man es von jeweils anderen stiehlt? Und vielleicht sind deshalb so viele Intervernetzte pessimistisch und deprimiert, weil sie irgendwann geschluckt haben, dass nur die Gewalt den Wohlstand schaffe? Wer soll sich da noch auskennen? Fluchtgedanken kommen auf, der Griff nach der Notbremse. Planet und Uhrzeiger drehen sich so schnell wie die Köpfe. Erst einmal aussteigen, z.B. aus der EU.

Weniger Begnügen, mehr Vergnügen

Wir können in Europa über vieles froh sein. Wir sollten uns aber nicht damit begnügen. Sollte man nicht Wege finden – auch im und über das Internet – Menschen mit emotionalen und geistigen Artikulationsschwierigkeiten zu helfen? Vielleicht gibt es die Möglichkeit, den Frust über das verkackte Leben in Richtung der Hauptverantwortlichen zu lenken? Anstatt in Richtung von Menschen, die erst vor kurzem hierher flohen und in diesem Zeitraum kein einziges von Lobbyist_innen diktiertes und korrumpiertes Gesetz mitbeschließen konnten?

Die Sprache ist ein geprügelter Hund

In der Inter-Gerüchteküche leidet auch die Sprache. Mehr Informationen in kürzerer Zeit erfordern eine kommunikative und kybernetische Effizienzsteigerung. Alles wird komprimiert. Die Schlagzeile muss auffällig sein wie der Tweet, bereits alles sagen und sagt gerade deshalb meist nichts mehr. Irgenein billiges Klopapier titelte jetzt, Norbert Hofer wäre Bundespräsident. Man schöpft Worte wie #Brexit aus dem Nachrichtenkreislauf. Man behauptet, die Briten stimmten dafür. Aber es stimmten auch Britinnen ab. 48% Briten und Britinnen stimmten dagegen. Und nichtwahlberechtigte Jugendliche, um deren Zukunft es ging, durften nicht mitmachen. Und Norbert Hofer führt mit seinen Kolleg_innen nur die Geschäfte des Bundespräsidenten, als Platzhalter. Das ist die Realität, die sich in verkürzten Zeilenschlägen nicht wiederfindet. Und wenn man weiterliest, kommt oft nicht viel mehr. Floskeln, undurchdachten Standardformulierungen, überflüssige Wiederholungen, unhinterfragte Behauptungen von Politikerin A im Widerspruch zu unhinterfragten Behauptungen von Anwalt B. Nähres weiß man nicht, berichtet dennoch darüber. Nicht immer, nicht überall, aber viel zu oft.

Man orientiert sich an der Funktionalität der Internetkultur, dem Reich der Selbstdarsteller_innen: Eine beschleunigende, anwachsende Masse. Die Präzision der Sprache geht verloren. Je leichter die Formulierungen, um so weiter fliegen sie. Reichweiteneffizienz. Einfach die Namen übernehmen, die sich bereits eingenistet haben. Das ist g'scheit (Man kann das als Österreicher nicht unironisch sagen).

So viel Dirty Talking, so wenig davon Porn

Ein Kredit für Hochverschuldete, mit dem diese Waffen und Banken frei kaufen können, heißt dann “Hilfspaket”. Vor Jahrzehnten eingereiste Menschen nennt man immer noch “Migranten”, gemeinsam mit den eigentlichen Immigrant_innen und jüngsten Flüchtlingen. Irgendwie migrantisch halt. Menschen in Not heißen allgemein “Flüchtlingskrise” und enttäuschte Erwartungen von Spielsüchtigen, die mit dem Geld anderer Leute zocken, heißen “Finanzkrise”. Das Vereinigte Königreich wird bei uns nur noch als Großbritannien bezeichnet, obwohl sich Schottland und nicht Nordirland aus dem UK verabschieden will. Einfach mal nachgoogeln! Holland will die Niederlande übrigens auch nicht verlassen.

Mündigkeit ist eine Fähigkeit

Mit Sprach-Schlampereien verschlampt man auch die Wahrnehmung der Realität. Mündigkeit ist nicht nur ein Recht. Es ist auch eine Fähigkeit. Wenn ich Menschen mit einer realitätsfernen, unpräzisen, schlampigen Sprache füttere, welche Mündigkeit soll dann am Anfang des Facebook-Kommentars und am Ende des Tweets herauskommen? Vielleicht werden die sprachlich Verschlampten nicht deshalb zu Internet-Trollen, weil sie über bestimmte Zustände wütend sind, deren Ursachen sie verkennen. Sondern weil sie überhaupt nichts erkennen. Weil sie die virtuelle Welt nicht mehr verstehen. Eine fassungslose Wut, nicht zu fassen, nach allen Seiten ins schier Unendliche erstreckend, in alle Richtungen auslaufend. Bis dann jemand daherkommt, der Profi darin ist, die blinde Wut in für ihn/sie vorteilhafte Bahnen zu lenken.

"The Donald" und seine Enten

An deren Schöpfungsgipfel steht eine Erfindung namens Donald J. Trump, die den Populismus auf ein jenseitiges Level hebt. Die USA waren immer schon ein innovatives Pflaster. Konservative Populist_innen hoppeln wie kleine Rehe um konkrete Aussagen herum. Sie halten den Interpretationsspielraum so groß, damit sie auf Ö1 etwas anderes sagen können als in der Kronenzeitung, damit sie im Zweifelsfall immer noch behaupten können, es wäre ganz anders gemeint gewesen, ein Missverständnis, womöglich ein absichtliches, von der “verdammten Lügenpresse” geschürt.

Dem Trump hingegen ist alles egal. Seinen Anhänger_innen offenbar auch. Selbst wenn er ihnen nachweislich und wiederholt ins Gesicht lügt, sie lieben seine unverschämte Offenheit und erklären “He tells it like it is.” Populismus und darüber hinaus unverhohlene Lügen (nicht bloß “Unwahrheiten”) werden also mittlerweile als “Wie es ist” bezeichnet. Die Verschlampung der Sprache hat auch den Vorteil, dass sich gerade Demagogen wie Trump leicht herausreden können. “Sie wissen wie es ist, in der Hitze des Gefechts, da sagt man so einiges. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe.” Du nicht, aber deine Anhänger_innen. Die suchen scheinbar ganz bewusst die Destruktivität. Vermutlich, weil ihnen ihre (virtuelle) Welt – the greatest country in the world – selbst nicht mehr gefällt.

Mir übrigens auch nicht. Aber ich habe ein tolles Ventil für meinen Frust gefunden, das mich davon abhält, Menschen zu hassen, die ich nicht kenne: Klugscheißen im Internet. Schönes Sommerloch noch!

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Ich mag doch keine Fische vergeben
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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 03.07.2016 23:14:38

sisterect

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