Irrte mich. Grundstimmungen in der Welt können nicht nur pessimistisch oder optimistisch sein, sondern auch gleichgültig. Wenn Stimmung gemacht wird, wie weit beeinflusst sie uns? Und kann man sich davon befreien?

Vorgestern haupttitelte eine Zeitung (Die Presse) und ein Reklameheftchen mit Teletext-Elementen (Heute), dass die Bundesrpäsidentschaftswahl möglicherweise erst am Montag entschieden würde. Auf Seite 3 beschäftigte man sich vermutlich exklusiv mit den imensen nichtvorhandenen Kosten umfallender Reissäcke in China. Währenddessen behauptet's auf und in der Zeit, dass Stress gar nicht so ungesund wäre, wie all die Burn-Out-Opfer tun. Stress wäre sogar supergesund und leistungsfördend! Aber vielleicht wurde jenes wissenschaftliche Ergebnis auch nur von einem Wirtschafts-Redakteur uminterpretiert.

Wenn Satire Nachrichten ersetzt und umgekehrt

Kein Wunder, dass der Fokus auf wesentliche Themen sowie investigativ-journalistische Arbeit (vor allem im englischsprachigen Raum) eher bei Satire-Shows als bei Abendnachrichten liegt. Natürlich gibt es auch seriöse Sender wie Democracy Now, aber den zu sehen ist wie Falter-Lesen - ein Minderheitenhobby, so selten wie Blinkersetzen beim Autofahren in der 30er-Zone.

Die Mehrheit der demokratischen Bevölkerung scheint von der systematischen Stimmungsmache abhängiger Nachrichten-Medien ihrerseits abhängig gemacht zu werden. Ob dabei Optimismus, Pessimismus oder wohlige Wurschtigkeit verbreitet werden soll, hängt davon ab, was sich gerade besser verkaufen lässt - oder was im politischen Interesse gewisser Auftragsgeber_innen liegt. Naivität wird als journalistische Objektivität verschleiert, Parteilichkeit als Meinung.

Natürlich wissen alle: Man darf nicht alles glauben... Aber Stimmung hängt nicht nur vom Wissen oder der individuellen Logik (Hausverstand) ab. Einer von Massenmedien getragenen Stimmung kann man sich schwer entziehen, selbst wenn man keine Medien konsumiert und ihnen generell misstraut.

Menschheitsstress

Flüchtlingshelfer_innen sind früher oder später gezwungen, sich mit Flüchtlingsgegner_innen auseinander zu setzen - auch innerhalb des Medien-Gemenges - da können ihre jeweiligen Leben (und medialen Vorlieben) noch so weit von einander entfernt sein. Der Islamismus (nicht nur dessen Terrorismus) lebt davon, dass wir gegen ihn sind: Die Stimmung gegen ihn, die in unseren Medien weitergetragen wird, wechselwirkt unweigerlich mit der Stimmung, die seine Medien erzeugen wollen: "Die ganze Welt ist gegen uns. Jetzt müssen wir uns behaupten und beweisen!" Ähnlich geht es Kellernazis und Chemtrails-Apologeten. Apokalyptische Grundstimmung aus Klimawandel, Überbevölkerung, dem kommenden 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe... Die Menschheit steht unter Stress. Sie sucht nach dem Höhepunkt, durch den sie explodieren darf. Laut Zeit ist das zwar gesund. Aber unsere Stimmungs-Abhängigkeit, wenn sie wirklich auf und in uns wirkt, bedeutet eine Einschränkung unserer Freiheit: der menschlichen Vernunft.

Von Platon bis Sheldon Cooper

Ob sich die alten Römer genauso fühlten, nachdem die Diktatur Cäsars aus einer korrupten Republik in ein korruptes Kaisertum führte? Die Philosophen nörgelten schon damals an der Gesellschaft herum: Machtmissbrauch und Dekadenz überall! Schon früher - vor über 2000 Jahren - war früher alles besser gewesen.

Aber die alten Oberschichtler hatten wenigstens einen Vorteil: Platonismus und Stoa. Diese beiden wichtigesten antiken Denkschulen brachten viele Ideen hervor. Nicht alles konnte zuende gedacht werden, vieles ging verloren. Aber die wichtigste Eigenschaft, die sie vermitteln wollten, als Ausgangspunkt des Denkens, war die innere Ruhe. Diese stoische Gelassenheit könnte auch den Menschen unserer Krisenzeit nicht schaden.

Vor allem in der Stoa versuchte man - wie davor Platon und später Sheldon Cooper - den Geist vom Körperlichen, Sinnlichen, Irdischen zu lösen, um nicht seinen Schwächen und Leiden-schaften zu unterliegen. Mir fehlt die Zeit, etwas gegen die damaligen Übertreibungen zu schreiben. Allerding war der Ansatz dieser Philosophie die Befreiung des Menschen vom Einfluss seiner "niederen Instinkte". Macht doppelt Sinn, da Neid, Wut oder Angst nicht nur die Lebensqualität mindern, sondern auch beim Philosphieren stören.

Philosophie und Zynismus in der Praxis

Es wird also Stimmung gemacht, mit einer der zynischten Metaphern der Menschheitsgeschichte: "Das Boot ist voll". Betrachten wir in aller Ruhe diesen Satz, der sich auf Menschen bezieht, deren Verzweiflung in Todesbooten auf hoher See endet. Sicher fallen uns allen klare Unterschiede ein, zwischen einem Boot und einem Staatenbündnis auf 4.381.324 km² Festland.

Der Boot-Spruch ist Teil billiger Stimmungsmache. Die daraus resultierende Stimmung wird als Legitimation missbraucht, um die Grenzen zu schließen und eine gemeinschaftliche Aufnahme der Flüchtlinge in der EU aufzugeben. Dadurch werden Menschen auf der Flucht entweder der Willkür eines Tyrannen, dem Elend im Niemandsland oder dem Tod auf dem Meer ausgeliefert.

Die Regierenden behaupten, sie könnten diese Menschen nicht aufnehmen, ihnen nicht helfen. Aber den Beweis, dass sie es tatsächlich nicht können, bleiben sie schuldig. Die meisten wollen es ihnen ungeprüft glauben. Sie haben zu viel Angst vor der "Flüchtlingskrise", die durch Medien erfolgreich zu einer Grundstimmung unserer Gesellschaft gemacht wurde. Deshalb kann ein Präsidentschaftskandidat namens Norbert Hofer (FPÖ) damit wahlkämpfen, dass er die Regierung viel früher dazu gezwungen hätte, das zu tun, was sie tut. Mehr braucht' nicht. Keine weiteren Fragen.

Entweder man hat Stress, weil man sich vor dem Fremden fürchtet wie ein Kleinkind vor der Dunkelheit. Oder man hat permanent ein schlechtes Gewissen, weil man sich ohnmächtig fühlt zu helfen.

Wir sollten uns weder von der einen noch von der anderen Stimmung - schon gar nicht von der Wurschtigkeit - abhängig machen. Wir sollten uns von medialer Stimmungsmache, Hetze, Angstmacherei und Gestresse befreien, um die Dinge in aller Klarheit untersuchen zu können. Und um nachzufragen: Ist “Das Boot ist voll” wirklich weniger zynisch als “Arbeit macht frei”?

CC/Wikicommons

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Eveline I.

Eveline I. bewertete diesen Eintrag 23.04.2016 19:32:39

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