Der besinnliche Stress ist vorbei. Jahresrückblicke überall. Gelegentliche Vorsätze wispern durch die immer noch und bald wieder berauschten Gedankengänge. Zeit zum Innehalten. Bringt mich auf die zwei Hauptthemen von 2015: Migration und Religion.

Religion: Politisches Betriebssystem im Zeitenwandel

Beides ist nicht neu. Vor etwa 12.000 Jahren, als Menschen begannen, sich für den Ackerbau niederzulassen, entwickelten sich auch neue Migrationsbewegungen und Religionen. Reiche und Gottheiten stiegen auf, krachten wieder zusammen, vermischten sich, beeinflussten die Nachfolgenden. Bis in Europa, nach Völkerwanderung und Christianisierung, eine gewisse Statik erreicht wurde. Das Selbe gelang dem Islam in Asien und Nordafrika. Wohin man auch ging, man war Christ_in (bzw. Muslim_a). Man unterwarf sich einem neuen Herren, aber dennoch dem selben Feudalsystem, das durch die “Vertreter” des einen Gottes legitimiert war. Praktisch: Alle Europäer_innen waren systemkompatibel getauft. Alle europäischen Reiche wurden von der Kirche mit einem einheitlichen Betriebssytem ausgestattet (das Judentum wäre demnach Linux).

Das änderte sich nur geringfügig mit Apple... ich meine Luther. Dem Markt der Religionen tut gesunde Konkurrenz zwar so gut wie jedem Markt. Religionskriege schaden dafür allen anderen Bereichen. Die Europäer_innen traten indessen eine neue Migrationswelle per Kolonisation los. Den damit erneut verbundenen Religions-Wandel erlebten die Nichteuropäer_innen auf schmerzvolle Weise. Genozid, Kultur-Vernichtung und die Zwangsmissionierung vor allem in den Amerikas machten das Christentum bis heute zum absoluten Marktführer unter den Weltreligionen.

Die Welt weigerte sich jedoch stehen zu bleiben. Die Philosophie der Aufklärung, amerikanische und französische Revolution schränkten die Macht der Kirchen ein. Es zeigte sich, dass die Herrschenden nicht unbedingt auf Religion und Klerus angewiesen sind, um ihre Macht zu legitimieren. Ein Staat kann auch auf Vernunft gründen. Oder auf militärische Gewalt. Oder Propaganda. Pseudo-Vernunft und Panikmache funktionierten schließlich immer schon: "Wer nicht für Napoleon kämpft, gefährdet die neuen, bürgerlichen Freiheiten der Revolution!" "Wer nicht die Banken rettet, zerstört das System (Politsprech: “unsere Wirtschaft”)!"

Open-Source-Religion

Die Säkularisierung tat und tut gut. Weihnachten wurde zum Familienspaß und/oder Wahnsinn, an dem auch reine Taufscheinchrist_innen ihre Freude haben. Nichtrchrist_innen ebenso. Weil's egal, weil's Privatsache ist. So soll es sein!

Doch um Gegenbewegungen festzustellen, muss man nicht erst auf die jüngsten islamistischen Radikalisierungstrends der “arabischen” Welt blicken. Ungarns “Diktator” Orbán bezieht seinen Rechtspopulismus genauso aufs “christliche Abendland” wie Pegida, die Identitären oder die FPÖ. Die rechtsextreme Regierung Polens demontiert ihren Rechtsstaat im Namen des (“wahren”) Katholizismus. Putin koordiniert seine Anti-Regenbogen-Propaganda mit der russisch-orthodoxen Kirche. Der Evangelikalismus in den USA ist mittlerweile synonym für Steinzeit-Faschismus.

Ist das alte Christentum zur Projektionsfläche der Wahnsinnigen, zum Propagandawerkzeug der Korrupten dieser Welt verkommen? Nein! Es hat lediglich – auch nicht zum ersten Mal – sein "Patent" verloren. Jeder xenophobe Steinzeitaffe, den der globale Wandel verrückt macht, kann sich heutzutage seiner Symbolik, Mythologie und Marke bedienen. Nach 2000 Jahren ist das Christentum erneut ein Open-Source-Programm. So glaubwürdig und nett der neue Papst auch erscheint, selbst seine Bischöfe sind sich nicht immer über die Corporate Identity einig.

Religiöser Wahn als Glaubensverlust

Das selbe Problem hat der Islam schon länger. Es gibt weder Marktaufsicht noch Aufsichtsrat. Die Verantwortung wird auf einen körperlosen CEO geschoben, der nur von zuhause aus arbeitet. Rechnungen werden dennoch ausgestellt. Religion als politisches Instrument funktioniert dort, wo kein moderner Rechtsstaat funktioniert. Die beiden größten Weltreligionen als letztes ideologisches Mittel der Globalisierungsverlierer: Die Einen flüchten sich in ihre fundamentalistische Glaubenswelt, weil sie den Glauben an die Welt verloren haben. Die Anderen missbrauchen diesen Extremismus als letzten Anker, um im Sturm des Wandels nicht ihre Machtpositionen zu verlieren.

Globalisierte Schismen

Sind Religionen grundsätzlich etwas Böses? Natürlich nicht! Vielmehr scheinen sie Bedeutungswandel und Spaltung zu erleben. Diese fallen erneut mit großen Migrationsbewegungen und Flucht zusammen. Für Milliarden Menschen sind christliche oder islamische Konfessionen Teil der Alltagskultur. Den Sesshaften spenden sie genauso Trost, Identität und Orentierung wie denen, die ihre Heimat verlassen müssen. Wo Menschen aus religiösen Gründen von Pazifismus und Nächstenliebe überzeugt sind, wird beides gefördert.

Mit den pervertierten Ansichten der Radikalen und den manipulativen Projektionen korrupter Politiker_innen, die sie missbrauchen, haben diese Religionen nichts mehr zu tun. Noch haben sich die Unterschiede nicht institutionalisiert. Aber irgendwann wird es vielleicht eine eigene Religion für wütende Faschistinnen und Extremisten geben. Vielleicht auch eine eigene Religion für Globalisierungsgewinner? Eine für Migrant_innen? Eine für Öko-Gutmenschen?

Weltreligionen menschlicher Zukunft

Was wäre, wenn sich die Menschheit allem Übel zum Trotze weiterentwickelte? Wenn sie erkennen würde, dass die moderne Migration genauso wie die Flucht eine logische, notwendige Konsequenz globalen Handelns ist? Wenn sie doch noch lernte, weltweit zusammen zu arbeiten, um die Wanderungen auf dem enger werdenden Planeten zu managen, um Fluchtgründe zu beseitigen, Machtmissbrauch zu bekämpfen, den Planeten lebenswert zu erhalten? Wenn es zur Demokratisierung der Welt käme?

Christentum und Islam müssten sich dann überlegen, ob sie dieser Entwicklung – die kommen wird, weil sie kommen muss – entgegengehen oder ihr entgegenstehen. Die Kirchen müssten sich vom religiös gefärbten Rechtsradikalismus in Osteuropa distanzieren. Die saudischen Muslime müssten erkennen, dass sich ihr Wahhabismus nicht von dem des Daesh (IS) unterscheidet. Ausgerechnet Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und sogar Feminismus könnten als Antivirenprogramme für spirituelle Betriebssysteme fungieren.

Religionen dürfen sich verändern. Das kann ihnen auch Marktvorteile verschaffen. Es muss auch mehr als eine Religion geben, denn Monopole führen zur Korruption. Sie könnten wertvolle Verbündete demokratischer Zivilgeschaften sein. Man stelle sich vor, Humanismus und Demokratie wären inhärente Bestandteile von Christentum und Islam. Ich kenne Christ_innen und Muslim_as, die sich das wünschen würden. Aber als Jahresvorsatz wird's nicht reichen.

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