Ich war arrogant. Dachte, dass es niemanden geben könnte, der/die sich überhaupt nicht mit Politik beschäftigt. Jetzt weiß ich es besser: "Ich kenn mich da nicht so aus.", heißt manchmal genau das. Früher unterstellte ich, es wäre eine Ausflucht aus der politischen Diskussion, übersetzt: "Geh mir jetzt nicht auf die Eier mit der depperten Politik!". Aber es gibt wirklich Menschen, die nicht den Unterschied zwischen Hofer und Van der Bellen kennen, ohne deshalb schlechte oder dumme Menschen zu sein. Und es ist auch möglich, dass diese Menschen trotzdem wählen gehen.

Nachvollziehbare Gefühle der Ent- und Befremdung

Eine Erleuchtung! Fällt auf meinen Blog zurück. Als ich voraussetzte, dass nur die Ahnungslosen rechtsextreme Parteien wählen würden, hätte ich nicht gedacht, dass mein Zynismus dermaßen realistisch ist. Wenn ich aber gewisse Personen als Rechtsextremistinnen oder Faschisten beschimpfe, meine ich nicht die tatsächlich Ahnungslosen – sondern nur diejenigen, die in Wirklichkeit genau wissen was sie tun.

Selbst jene Rechtswähler_innen, die so ein Gefühl verspüren, ihre regionale (nur bedingt "nationale" ) Identität würde verloren gehen, müssen nicht unbedingt rechtsextrem eingestellt sein. Eine gewisse Ahnung, ein Gefühl der Entwurzelung kann auch ich nachvollziehen. Das Problem hierbei: Keine Partei bietet eine Erklärung dieses Phänomens an, keine eine Lösung, außer die rechtsextremen, rechtspopulisitischen - wenn auch illusorisch.

Flüchtlinge: Die Pokémons rechtsextremen Marketings

Rechtspopuläre erklären, eine "Überfremdung" durch Gastarbeiter, Immigrantinnen und Flüchtlinge zur Ursache des Problems. Damit geben sie den Identitäts-Verunsicherten eine Projektionsfläche für deren noch ungenauen Gefühle. Zugleich bauen sie ein Feindbild auf, gegen das sie sich als Abwehrkämpfer inszenieren. Das kennt man auch aus dem Marketing: Wenn es keine Bedürfnisse für mein Produkt gibt, benütze ich Werbung, um diese Bedürfnisse künstlich zu erzeugen.

Niemand benötigt einen High-Heel-Sportschuh. Und niemand interessiert sich für die Sozial-, Umwelt- oder Wirtschaftspolitik der FPÖ - auch nicht der Journalismus. Diese Rechts-Marketingpartei hat sich auf das Produzieren von Feindbildern spezialisiert und wird auch darauf reduziert.

Die aktuellen Kriegsflüchtlinge sind ein Rohstoff-Segen für alle Rechtspopulist_innen Europas. In Mecklenburg-Vorpommern klagten selbst die Rechtskonervativen, dass sich keine Sau für irgendetwas interessiere, abegesehen vom Flüchtlingsthema. Obwohl dieses menschenärmste Deutsch-Land einen Haufen anderer Probleme hätte (zugleich aber kaum Flüchtlinge). Die Ausländerfeinde Deutschlands (AfD) erreichten 20,8 % und liegen nun, in der Heimat der Kanzlerin, vor der CDU auf Platz 2 (offenbar erinnerten sich doch noch genug Meck-Pomms an ihre sozialpolitischen Herausforderungen und wählten mehrheitlich die "Sozis" - oder was auch immer die SPD darstellen soll).

Angst heißt die Krankheit, Rechtspopulismus der Quacksalber

Abegesehen von einer gewissen Identitätskrise, gibt es natürlich auch andere Ursachen für Angst und Verunsicherung. Aber die Frage der Identität, der eigenen Kultur ist herausragend. Nachweislich (dazu gibt es nicht nur diese Studie) ist die Angst vor Überfremdung dort am größten, wo am wenigsten Fremde leben. Es macht durchaus Sinn, dass es dort, wo es eingeschworene Nachbarschaften und traditionsreiche Gemeinschaften gibt, sich die Verlustangst um das Vertraute am stärkste entwickeln kann. Der Rechtspopulismus bietet jedoch die falschen Rezepte an.

Sundown On The Union: Global ist längst daheim

Die Globalisierung ist keine Erfindung türkischer Gastarbeiter oder syrischer Kriegsflüchtlinge. Wenn wir uns - auch im entlegensten Dorf - umsehen, erkennen wir: Wir sind umgeben von alltäglichen Produkten, die alle nichts mit eigenständiger, regionaler Tradition und Kultur zu tun haben. Das Smartphone - das viele gefühlte 90% ihrer Zeit vor Augen haben - unsere Kleidung, unsere Möbel, unser Küchenkram... Dieses ganze Zeug ist für die gesamte ("westliche";) Welt designed, außerhalb Europas produziert, oft auch anderswo erdacht. Wir betrachten, mit verständlichem Irrtum, die Immigrantinnen und Flüchtlinge als Vorboten globaler Veränderung. Vielmehr sind sie deren Resultat. Bob Dylan sang bereits in den 80ern ("Union Sundown", 1983) über diese Problematik. "And what's made in the U.S.A"? Gute Frage, Bob.

Wer sind die wahren Patriot_innen?

Auch unsere meistgehörte Musik ist selten österreichisch. Sollten wir uns deshalb mehr Andreas Gabalier antun? Attwenger, Texta und Hubert von Goisern sind genauso einheimisch. Die haben auch schon viel länger bzw. dichter österreichische Musik-Tradition und Dialekt in ihrer Kunst vertont, als die Schlager-Animateure des „volkstümlichen“ Musikantenstadls.

Ausgerechnet "grüne Faschisten" - wie Norbert Hofer sie gerne nennt - haben sich für den Bio-Trend auf heimischen Märkten eingesetzt, der den Handel mit regionalen Produkten und alten Kultursorten fördert. Wenn Rechte vom Erhalt österreichischer Naturlandschaft sprechen, meinen sie vermutlich das Züchten von Gehege-Wild für den süffisanten Jagdspaß ihrer reichen Freunderln.

Die FPÖ bezeichnet die Förderer_innen der heimisch Ökologie als "Diktatur", bezweifelt immer noch den menschgemachten Klimawandel, der mittlerweile auch österreichische Bauern und Bäuerinnen schädigt. Sie beschäftigt sich aber zugleich mit "Chemtrails" und Wahrsagerei, flirtet mit dem Putin-Regime oder serbischen Extremisten. Vermutlich, um dort ihren "Patriotismus" zu suchen.

Sympathy for the Bierzelt

Ich kann auch Großstadtmenschen verstehen, die nach schöner Tradition suchen, sich aber für ihren Ausflug in den Prater keine originalen Trachten leisten können. Die Bobos der reichen Bezirke schauen dann schief auf das Dirndl aus Bangladesh und die Lederhosen aus China. Schon wandern die Begafften an jene Orte, an denen ihnen der Eindruck vermittelt wird, dass ihre Vorstellung von Tradition und Kulturgut begrüßt wird: Ins FPÖ-Bierzelt. Dort steht dann eine grantige Gelfrisur (60% Made in China) namens H.C. Strache, schwingt ein Kreuz und spaltet erfolgreich Favoriten und Neubau, Donaustadt und Josefstadt, die Bobos und die Prolos. Und auch wenn kaum jemand am nächsten Morgen, mitsamt der schönen Tracht, in die Kirche kriecht, fürchten sich plötzlich alle vor dem Verlust ihrer christlichen Identität. Gewisse Medien helfen mit, Lügengeschichten über verbotene Nikoläuse im Kindergarten zu verbreiten. In weniger als drei Monaten, ist es wieder so weit.

Freier Wille VS Freiheitlichkeit

Muslim_as verbieten mir nicht das Schweinefleisch. Ich verzichte frei-willig – das ist übrigens Gegenteil von "freiheitlich". So wie die meisten von uns freiwillig auf die Kirche verzichten, freiwillig globale Produkte und Kulturgüter konsumieren. Wir sind Teil einer globalisierten Welt. Wir profitieren von ihr. Wir erkennen mittlerweile aber auch ihre Nachteile. Der drohende Klimawandel - unser langfristig größtes Problem - ist eine Folge globalisierter Märkte, über die Welt verteilter Teilproduktionsstätten, ausgelagerter Industrie, in Staaten ohne Umweltauflagen. Die globalisierten Märkte erzeugen auch Flucht, z.B. wenn das "Wirschaftspartnerschaftsabkommen" (mehr Abkommen als Partnerschaft), zwischen EU und Westafrika, die afrikanischen Bauern und Bäuerinnen ruiniert.

Hier wäre einmal EU-Kritik angebracht, Herr Hofer. Aber diese Seiten der Globalisierung werden von der FPÖ ignoriert oder sogar negiert. Sie würden an die Zusammenhänge von Märkten und Migration (und Multikultur) erinnern. Und wir sollen nicht erkennen, dass es unser eigener Konsum ist - den uns die Werbung gerne als "Lebensstil" verkauft - der zum Verlust von Tradition, Identität und Kultur führen kann. Eigenverantwortung und Selbstkritik gehören eben nicht zum "freiheitlichen" Gedankengut. Und in der artverwandten Billig-Presse ist das Unsrige (die Leserinnen und Leser sowieso) ohnehin so erhaben über jeden Zweifel wie Sachertorte und Sissi.

Österreichisch-abendländische Identitätsstiftung

Ich weiß ja nicht, ob die blauen Verteidiger der österreich-abendländischen Kultur zum Mozart-Hören gelegentlich in die Oper begöhren. Die mögen ja keine Freimaurer. Und Beethoven erinnert vermutlich zu sehr an die Europahymne. Wir teilen diese traditionelle Musik – genauso wie etwa "Stille Nacht, heilige Nacht" – mit beinahe der ganzen Welt. Dennoch können wir unsere eigene kulturelle Identität in ihr finden. Das ist kein Widerspruch. Sie besteht schließlich nicht nur aus Bierzelt, alpinen Trachten und grantigen Gelfrisuren. Aber das wissen eh auch alle.

Wenn aber mit Zeltbier abgefüllte Trachtenleiberln auf einen blauen Grantler hereinfallen oder ihn auch völlig nüchtern wählen? Wissen sie dann vielleicht wirklich nicht, was sie tun? Wissen die Anderswählenden, was sie mit ihnen tun sollen? Wäre ich ein Blauwähler, der seinen Gefühlen folgt, ohne genau zu wissen warum und ein linker Klugscheißer, mit einem Blog auf Fisch und Fleisch, würde mich deshalb belehren wollen, würde ich erst rechts extrem wählen. Z'fleiß! Ohne deshalb eher zu wissen, warum.

Einfach auf den echten Österreich hören

Wie kann man diese Menschen überzeugen? Sich mit cleveren Spruchbildern online lustig zu machen, wird nicht genügen. Aufklärung wäre schön. Aber wie erreicht man die freiwillig und unfreiwillig Distanzierten, für die „Studierter“ als Schimpfwort gilt? Vielleicht mit ein bisserl Patriotismus, ein bisserl Identitätsstiftung? Als ehemaliges Mitglied der Salzburger Domkapellknaben (über 600 Jahre alt!... der Chor, nicht ich), beislphilosophischer Biertrinker, grantelnder Wiener Kaffeehausbewohner und Filzhuträger (Made in USA, Bob), bin ich eigentlich DER Vertreter echter österreichisch-abendländischer Identitätsstiftung. Ja, ich! Und ich wähle aus patriotischen Gründen nicht den FPÖ-Kandidaten. Richtig? Falsch? Na, eben!

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Waldschrat der Erste

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