Werte-Deppatte III: Ermüdungserscheinungen

Ich höre so oft: „Ich kann's schon nicht mehr hören.“, dass ich es schon nicht mehr hören kann. Dabei wird so viel geredet, geschrieben, gepostet und doch so wenig gesagt. Vor allem wenn's um die dringlicheren Probleme unserer Zeit geht.

Härte kultureller Werte

Krieg im „nahen“ und ukrainischen Osten, Flüchtlinge, Rechtsradikalisierung. Vom Artensterben, der global-ökologischen Katastrophe der Regenwaldvernichtung, der Überfischung der Weltmeere, den unübersichtlichen Nuklearwaffenarsenalen mit x-fachen Weltuntergangspotential, der korrupten Finanzwirtschaft und der Frage, ob es cool oder doof ist, Frankreichs Tricolore über sein Facebook-Bildchen zu legen, will ich gar nicht reden.

Dafür hätte – ausgenommen Letzteres – sowieso niemand Zeit. Wir müssten über „Werte“ reden. Über „unsere“, aber nie über die eigenen. Man findet selten jemanden, der/die bereit ist, diese zu erklären.

Wenn aber doch, dann kommt meist heraus: Kulturelle Unterschiedewären gemeint. Wie feiern syrische Muslime den Nikolaus (im Kindergarten)? Und würden sie unsere türkischen Kebab-Standln in syrische Kebab-Standln verwandln? Würden Irakerinnen die Asia-Nudel-Box beibehalten?

Und neuerdings: Würden antiisraelische Muslime unseren einheimischen Antisemitismus verdrängen? Immerhin leben wir in einer pluralistischen Gesellschaft. Also Multi-Kulti. Aber das darf man nicht sagen, weil Multi-Kulti ist genau das, was rechte Verteidiger_innen der pluralistischen Gesellschaft als Ursache ihres Untergangs betrachten.

„Wert“ + Gesetz = Geschwätz

Manchmal übersetzt man „Werte“ auch mit „Gesetze“. Die müssten lernen, dass man bei uns auf der rechten Seite fährt und Frauen nur im eigenen Haushalt verprügelt. Mit denen muss man dafür nicht verheiratet sein. Ein freies Land.

Dank dieser Werteaufklärung stünde der Integration eigentlich nichts mehr Wege, außer der Umstand, dass wir diese ganzen Notleider_innen eigentlich nicht hier haben wollen. Weil was bringen die unseren „Werten“? Unseren Anlage-Werten? Haben die einen Wert am Arbeitsmarkt? Hat ihr Leben einen Wert für uns?

Ethische Ermüdungserscheinungen

Im Zuge der Deppatten hier und da, scheint es bereits zu Ermüdungserscheinungen zu kommen. Das heißt, beim Klugscheißen sind alle – dieser Blogger inklusive – noch recht fit. Aber die emotionale Hemmschwelle legt sich schon langsam schlafen – so im Gesamtüberblick.

Wir erinnern uns an Zeiten, in denenfaschistische Statements und Wiederbetätigung noch etwas bedeuteten. Gudenus senior wurde noch verurteilt. Zwei singende Hobby-Nazis im Keller wurden aus der ÖVP „distanziert“. Susanne Winter aus der FPÖ geschmissen. Für ihren Kollegen Höbart gab's aber nur noch kopfgeschütteltes Gähnen (schließlich hatte er nicht „Juden“ gesagt).

Die Demonstrant_innen in unlängst Breslau waren wenigstens konsequent: Die verbrannte Puppe war lautgröhlend als Jude deklariert. Als deren verschwörungstheoretischen Komplizen mitgemeint waren aber auch die Muslime. Kein Feindbild wird ausgeschlossen.Moderner Euro-Faschismus. Nachdem es nicht mehr so viele Juden und Jüdinnen gibt in Europa, macht das auch von der Ver-Wertung her Sinn. Feindbild-Restlverwertung.

(Für den Zyniker) witzige Nebenerscheinung: Während christliche Polen tatsächlich Antisemitismus verbreiten, verbreiten jüdische Gemeinden Angst vor dem angeblichen Antisemitismus „arabischer“ Flüchtlinge. Muslime gegen Juden in Europa: Der feuchte Traum jedes Möchtegern-Breiviks.

Der ganz normale Wahnsinn ist nicht mehr normal

In ganz Europa testet man, wie weit man noch gehen darf. Die Schwelle des Anstands ist ironischerweise (auch dank der Verbotsgesetze) in Deutschland und Österreich relativ hoch (auch wenn man's kaum glaubt). Wenn man sich anhört, was britische Politik oder Journaillie so von sich geben darf, freut man sich auf den Brexit. Den "Ostblock" verstehe ich zum Glück nicht. Und wenn Fußballhooligans heute sich und andere verprügeln, fällt das schon gar nicht mehr auf; ebenso wenig die wiederkehrenden Schändungen jüdischer Friedhöfe oder Shoa-Gedenkstätten,  neben dem ganzen Irrsinn, an den man uns gewöhnen will.

Warum so „fucked-up“?

Wir dürfen uns aber nicht daran gewöhnen! Die ganze Gewalt in Wort und Tat bleibt Ursache der selben Krankheit. Und die ist ansteckend. Immunisieren kann man Menschen nur einzelnd, wenn auch gemeinsam. Je mehr umso sicherer.

Wie The Clash dereinst so eloquent formulierten: „I get violent when I'm fucked up“. Es erübrigt sich also die Frage, warum Menschen gewalttätig sind. Wichtig wäre die Frage, warum sind sie alle so fucked-up? 

Darüber sollten wir mal reden, damit aus der Deppatte vielleicht wieder eine Debatte wird. Der nächste, der von „Werten“ faselt, sei in den Schwitzkasten genommen, bis er rausrücke, was er wirklich meint (ich bin zu galant, um das zu gendern).

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Silvia Jelincic

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