Wiener Menschenmelange in der Zwischenwahlzeit

Etagendenken

Windiges Wien. Eh immer. Frühlingshaftes Mantelwetter am Yppenplatz. Raum möglicher Multikultur; jeden Tag, jede Nacht aufblühend und wieder verschwindend. Konstruierte Beisl-Weltoffenheit auf kosmopolitischen Anbauflächen. Die vereinzelten Schreie der Kinder, der Standlbetreiber, der Trankler. Schalldämpferjazz hinter sauberen Glaswänden. Hier herrscht Toleranz im Nebeneinander. Warum auch nicht? Hier hat man: Zeit, Platz, Geld, Geschäft. Die Kulturschaffenden füllen das Nichts zwischen den Atomen des Alltags mit Energie, Geist, Idee. Die Gottergebenen trapieren sich wie B-Movie-Stars orientalischer Märchenverfilmungen. Zwischen Spielplatzpisse und Glücksspielunglück, Haschischdealern und Käsetheken, Bettlerinnen und Lebendfisch tanzen die Unterschiede aller Welt auf den Standl-Brettern die die Welt bedeuten. Hier wird auch Van der Bellen gewählt. Warum auch nicht? Hier hat man. Keine Angst. Die Identitäten fließen, wenn auch nur nebeneinander. Hier sitzt man satt im Frieden.

Flachländlichkeit

Stürmisches Wien in den flachländlichen Weiten seines bald pannonischen Beckens. Sterbende Bauern, untote Neubauarchitektur; die Brutkästen der steten Sehnsucht, betäubungsbegast durch Folklore und ständiges Hackeln. Das Fremde verbirgt sich hinter Thujen-Hecken; hinter den Theken verbergen sie sich, wo sie hingehören, die Fremden; wo der Tschik-Dschungel den Rest von Welt und Leben verdeckt - wo Schlager aus aller Welt die Seele schlägt, bis sie willig im martialischen Rhythmus stampft. Kriegsgesänge über die Verliebtheit. Hier zerrt man an seinen Wurzeln bis es schnalzt. Die Kultur aus Übersee verteidigend, vor dem Erinnern an die eigentliche Kultur. Ein Sexist ist hier näher am Unser, wenn er Lederhosen trägt, als ein Sexist, der für Mozart schrieb. Mit Trachten indigener Alpenminderheiten - seit jeher von sommerfrischen Stadtmenschen für den Tourismus herbeifantasiert - rüstet man sich vor dem Feind, der hier niemals sichtbar wird; umso gefährlicher muss er erscheinen. Aber man kennt die Gschichtln aus den Reklameheftchen; auch von denen, die drüben waren im Migrantischen. Dort gibt es Verbrechen. Hier hat man nicht mehr. Die Identitäten stocken vor Angst und Sorge. Hofer heißt hier Hoffnung; Hoffen auf wenigstens irgendwas. Man hat nicht mehr, als diese Hoffnung auf ein Beben, das die Mauern der Brutkästen erschüttert, das den Alltag beutelt. Warum auch nicht? Was hat man hier? Hier sitzt man satt im Frieden.

Nebeneinander her-irren

Sie sitzen alle satt im Frieden und geben keine Gründe an. Bequem legen sie die Köpfe auf die Muttererde und begnügen sich damit, dass unter ihnen das Mysterium ihres Lebens im Dunkeln ruht. Es soll ruhig bleiben, im Dunklen, in der Stille. Wer verzweifelt, will nicht mehr zweifeln. Wer vorurteilt, kann nicht mehr urteilen, ohne sich selbst zu verurteilen. Die Wahrheit suchen zu müssen, ist nur den Lügnern und Heuchlerinnen Strafe. Und sie geben keine Gründe an.

Sie suhlen sich in ihrem Unverständnis und nennen es gerecht, ihr Recht, ihre Rechthaberei. Niemand will die eigene Wut unterbrechen, die den satten Frieden so schön berauscht. Warum sollte man die Anderen - die sich erfrechen, so anders zu sein - versuchen zu verstehen? Ignoranz als Bestrafung der Anderen, ein geistiges Selbstmordattentat das nichts bewirkt: Das Nichts zwischen den Leben, die nebeneinander verlaufen im Sand der Zeiten; zwischen Yppenplatz und Seestadt, zwischen Off-Shore-Anwalt in der modernen Dachgeschoßwohnung hoch überm altbauverwurzelten Multikulti-Markt hier, und dem Kellernazi im Brutkasten-Sozialbau hoch überm neuweltlichen Billigarchitektur-Spielplatz dort.

Demokratie und Rechtsstaat haben Herzrhythmusstörungen, setzen manchmal aus. Kein Herzfehler. Ein Hirnfehler. Was kümmert uns das? Was interessieren uns zugrunde liegende Prinzipien? Das Zugrundeliegende ist uns zu tief. Wir wollen aber hoch hinaus.

Die Meinungen verlaufen nebeneinander, nicht miteinander. Unsere Angst und Sorge steht uns in den Gratiszeitungen vor dem Antlitz geschrieben. Wir wollen keine Linken, wir wollen keine Rechten und die Mitte ist ein fauler Kompromiss, der zum Himmel stinkt; in dem ein Gott wohnt, den wir sonntäglich in den Kirchen schlachten, um unsere Erbsünde zu erneuern. Wir sind halt so, das muss als Argument genügen. Gewollter Wandel, Wandel im eigenen Willen ist Schmerz. Lieber sinnlos bleiben und sich wandeln lassen.

Inselseliges Vergessen

Schaut euch die Welt an! Sie macht auch keinen Sinn. Also machen wir unseren eigenen Reim. Die Geschichte reimt sich wie wir sie verstehen wollen und verstehen wir sie nicht, reimt sie sich uns auch nicht. Die Gegenwart ist unser Streben nach Vergessen. Die Zukunft ist unsere Wut auf den jeweils nächsten Bundespräsidenten, diesem Bildabzug der ganzen österreichischen Menschheit. Wir haben den Frieden satt, aber fürchten den offenen Konflikt. Noch.

Fremd ist das Eigentliche

So wählt man. So ist man. Ohne die Konsequenzen am eigenen Leib, in der eigenen Brust zu spüren. Alles bleibt virtuell. Die Fremden, das Fremde betrifft alles - Medien und Wahlkampf. Nichts ist Österreich zu eigen, denn das Eigentliche fürchten wir mehr noch als das Fremde. Selbst der Name unserer Republik ließen wir uns von einem Reklameheftchen stehlen, das sich Zeitung nennen darf. Man kennt wen, der wen kennt - nichts Eigentliches. Alles auf sicherer Distanz gehalten. Wer in Deckung gehen will, muss nur den Fernseher erschießen. Die Grünen und die Violetten kämpfen und streiten und beleidigen einander, weil's Spaß macht; Krieg zu spielen ist besser als Fußball. Der Frieden ist unmännlich, der Respekt ist schwul.

Lebensdurchreise

Und ich reise durch Wien, von Ottakring nach Donaustadt, von Bobostan bis Broletanien, zwischen bezischten Schulklassen und grölenden Fußballfans; schläfrigen Studentinnen und dösenden Pensionisten; den streng riechenden Freiluftschläfern, die an ihren Flaschen hängen, und den sanft stinkenden Büroluftwächterinnen, die an ihren Flakons hängen. Sie haben jeweils zuviel und zuwenig. Reise zwischen Schläfenlocken und Kopftüchern, Kreuzen und Maulkörben, barbarischen Bärten und altrömischen Köpfen, dunkler Haut und heller Haut; fremden Ausländisch und unverständlichen Österreichisch; quer durch das Nichts und durch das All. In der Mitte der Zwischenräume, in der Mitte meines Lebens, der spekulierten Hälfte meiner Jahre.

Alles und Nichts

Das Menschwesen ist alles was es erkennt und nichts darüber hinaus. Es füllt das Sein mit Nichts und das Jenseits mit allem. Ich weiß alles und nichts. Wie also kann der Feuersalamander den Bären davon überzeugen, dass der geschmierte Honig um sein Maul auch ihn krank machen wird? Die Welt ist dahin. Mit Guster trink ich ein Krügerl im Gassenschluchtenwind, im Betonfeldersturm, am Rand der Menschenmelange von Wien. Und ich muss mich wundern. Die Welt ist immer dahin. Wohin sonst?

Antonik-Seidler

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Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 27.04.2016 22:53:42

fischundfleisch

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