Bitte nicht lächeln!

Manchmal muss man wegfahren, um zu realisieren, dass Zuhause etwas nicht stimmt. Seit gut einer Woche bin ich in China, und mir fällt auf, dass hier etwas grundlegend anders ist: Die Frauen lächeln nicht dauernd.

Man muss man sich das wohl erst einmal klarmachen: Frauen lächeln keineswegs von Natur aus. Wie andere Menschen auch schauen Frauen normalerweise neutral und entspannt, also ohne die Gesichtsmuskeln groß anzustrengen. Lächeln ist ein bewusster Kommunikationsakt. Wer lächelt, signalisiert dem Gegenüber, ihr oder ihm wohlgesonnen zu sein. Man schafft damit eine entspannte und freundliche Atmosphäre und ermöglicht es, zueinander in Beziehung zu treten.

In Europa könnte man jedoch leicht den Eindruck gewinnen, Frauen wäre quasi natürlicherweise ein Dauerlächeln ins Gesicht gefräst. Man ist ja ständig von lächelnden Frauen umgeben, dazu braucht man nur mal eine Illustrierte durchzublättern oder sich die Werbeplakate an der nächsten Straßenecke anzuschauen. Männer dürfen durchaus ernst dreinschauen, entschlossen und keinen Widerspruch duldend. Frauen aber haben zu lächeln, sobald sie in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten – andernfalls senden sie starke negative Signale aus und wirken unhöflich.

Ein deutscher Bekannter, der bereits länger in China lebt, erzählte mir, dass er anfangs oft irritiert war, weil besonders ältere chinesische Frauen ihn so „böse“ anschauten. Er interpretierte ihren neutralen, also nicht-lächelnden Blick vor dem Hintergrund seiner europäischen Prägung als unfreundlich – und war dann entsprechend erstaunt, wenn dieselben Frauen ihm ein strahlendes Lächeln schenkten, sobald es zu irgendeiner Art von Kontakt kam. In Wirklichkeit waren sie nämlich weder böse noch unfreundlich, sie lächelten bloß nicht grundlos.

Lächeln ist eine inhaltliche Botschaft, mit der etwas kommuniziert wird. Und europäische Frauen haben offenbar die Pflicht, ihrer Umwelt ausnahmslos jederzeit zu signalisieren, dass sie positiv wohlwollend auf alle möglichen Gegenüber eingestellt sind. Das ist durchaus nichts Nebensächliches, sondern sagt ja viel über unsere Geschlechternormen aus.

Wir westlichen Frauen sollten aus diesem Spiel aussteigen und nur noch dann lächeln, wenn es dafür einen konkreten Grund gibt. Zumindest diejenigen von uns, die es sich leisten können. Denn eine Frau, die in der Öffentlichkeit nicht lächelt, geht durchaus das Risiko ein, von ihrer Umwelt deshalb für unhöflich oder „böse“ gehalten zu werden. Aber irgendjemand muss ja damit anfangen, dieses Muster zu durchbrechen und klarzustellen: Wir Frauen haben nicht die Pflicht, ständig nach allen Seiten hin Kommunikationsbereitschaft und Wohlwollen zu signalisieren.

Ganz im Gegenteil übrigens: Wenn wir wollen, dass unser Lächeln wirklich etwas bedeutet, dann müssen wir sogar mit dem Dauergrinsen aufhören. Denn wer immer lächelt, lächelt in Wirklichkeit nie.

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Bernhard Juranek

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