Gehört eine Vergewaltigungsszene auf die Opernbühne?

Eine neue Inszenierung von Rossinis „Guillaume Tell“ hat im Royal Opera House in London für Buhrufe gesorgt: In der berühmten Szene im dritten Akt, wo sich Tell eigentlich dem demütigenden Befehl widersetzt, den Hut des Landvogts zu grüßen, und daraufhin festgenommen wird, hat Regisseur Damiano Michieletto die Handlung geändert. Stattdessen wird nun gezeigt, wie die österreichischen Truppen eine Schweizerin vergewaltigen. Sie flößen ihr Wein ein, begrapschen sie, reißen ihr die Kleider vom Leib und missbrauchen sie minutenlang – bis endlich Tell kommt und sie rettet. In dieser Inszenierung ist das der Grund für seine Verhaftung.

Viele Medien verurteilten die Szene ebenfalls als „scheußlich“, „voyeuristisch“ und „lüstern“. Regisseur und Intendant hingegen verteidigten sie: Die Darstellung werfe ein „Schlaglicht auf die brutale Wirklichkeit von Frauen, die während Kriegszeiten missbraucht werden“, sagte Opernintendant Kasper Holten. Und Regisseur Michieletto sagte, man müsse doch die Brutalität der Besatzungstruppen anschaulich machen.

Ich habe die Oper gestern Abend – sie wurde aus dem Royal Opera House live in Kinos überall auf der Welt übertragen – gesehen, und kann mich keiner der beiden Seiten anschließen. Wirklich unerträglich fand ich nicht die Szene der Vergewaltigung als solche, sondern die Funktion, die sie in dem Drama hatte: Sie sollte Wilhelm Tell als Held des Volkes in ein nochmal glorioseres Licht rücken. Das Leid der vergewaltigten Frau diente als Motiv und Rechtfertigung für männliches Revoluzzertum, das eigentlich nur das spiegelbildliche Pendant zum ebenso machohaften Auftreten der Soldaten ist.

Auf diese Weise aber werden Vergewaltigungen in einem Kampf unter Männern instrumentalisiert. Und das ist das eigentlich Ekelhafte daran. Denn es ist ja nicht wahr, dass Vergewaltigungen nur von fremden Soldaten verübt werden. Sie werden genauso von den eigenen Männern, den Nachbarn, den Leuten aus dem heimatlichen Dorf verübt.

Es ist gut, dass der Skandal von Massenvergewaltigungen, wie sie in allen Kriegen der Welt verübt werden, heutzutage nicht mehr nur von Feministinnen beklagt wird, sondern auch ins Bewusstsein des Mainstreams gelangt ist – und nun sogar auf die Bühnen altehrwürdiger Opernhäuser kommt. Aber wer diesen Skandal wirklich ernstnimmt, muss gleichzeitig auch über die Ursachen reflektieren: Patriarchale Überlegenheitsansprüche, männliches Besitzdenken, Vorstellungen von Ehre und Heldentum. Kurz: Verquere Vorstellungen von Männlichkeit.

Genau diese Überlegungen fehlen aber in Michielettos Inszenierung vollkommen. Ganz im Gegenteil: Die Frauen dienen ihm als bloßer Spiegel für männliches Gehabe. Sie werden gezeigt, wie sie am häuslichen Küchentisch um ihre Männer bangen oder wie sie Wäsche waschen und ihre Kinder in Bottichen baden. Die üblichen Geschlechterklischees des 19. Jahrhunderts, wie sie in Rossinis Oper selbst angelegt sind, werden ungebrochen wiederholt. Der pseudo-revolutionäre Ruf zu den Waffen, der machohafte Hunger nach Vergeltung und Blut, all das wird nicht kritisch reflektiert, sondern erneut gefeiert. Bis schließlich die einen Männer die anderen Männer besiegt haben. Na toll.

Ich habe den Eindruck, dass es den Verantwortlichen beim Umschreiben dieser Szene nicht darum ging, das Tell-Drama zeitgemäß zu interpretieren. Denn das hätte bedeutet, auch die feministischen Analysen über das Phänomen von Kriegsvergewaltigungen ernst zu nehmen. So war es wohl doch bloß das altbekannt Klischee, dass sich im übersättigten Kulturbetrieb mit nackten Frauen und vor allem mit weiblichen Opfern immer schön Aufmerksamkeit erregen lässt. Und Kasse machen.

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Claudia Tabachnik

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Luis Stabauer

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fischundfleisch

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