Warum Van der Bellen unrecht hat und die Verfassung reformbedürftig ist

In einem Kommentar in der Wiener Zeitung behauptete Bundespräsident Van der Bellen, die Verfassung sei die Magna Charta der Republik und in früheren Aussagen meinte er, sie sei "schön".

Bei manchen Qualitäten der österreichischen Verfassung sollte man aber die Mängel und Schwächen nicht übersehen.

1.) Es besteht ein unauflöslicher Widerspruch zwischen den Verfassungsbestimmungen Listen- und Verhältniswahlrecht und Freies Mandat. Wirklich freies Mandat gibt es eher in Mehrheitswahlsystemen. Auch eine Entwicklung in Richtung personalisiertes Verhältniswahlrecht würde eine Annäherung an das freie Mandat bedeuten.

2.) Die lex imperfecta-Problematik: österreichische Verfassungsregelungen sehen keine Sanktionen bei Verfassungsbruch auf, sodass man die Verfassung folgenlos brechen kann, wie die Regierung Faymann-Pröll bewies, die die Budgeterstellung ebenso verfassungswidrig wie folgenlos auf einen Zeitpunkt nach Landtagswahlen verlegte. So gesehen ist die Verfassung gar kein Gesetz, sondern nur eine Empfehlung oder Bitte ohne bindenden und verpflichtenden Charakter.

3.) Obwohl die österreichische Verfassung die wahrscheinlich meistgeänderte der Welt ist (durch die großen Koalitionen aus SPÖ und ÖVP, die oft die nötigen Zweidrittelmehrheiten hatten), wurden die Veraltungen nie bereinigt, sondern beibehalten. Dazu gehört zum Beispiel eine Verankerung von Landesverteidigung und Neutralität, die sich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks überholt hat und mit der Entwicklung Richtung Weltinnenpolitik.

4.) Die österreichische Verfassung ist ausgelegt auf das Zwei- oder zweieinhalb-Parteiensystem und stabile Lager mit hohen Stammwählerraten wie im Jahr 1920. Wenn die Verfassungsväter gewusst hätten, dass später die Wechselwähleranteile viel höher sein würden und damit auch die Zwänge, Koalitionen zu sprengen, um Wähler zu halten, dann hätten sie wahrscheinlich eine völlig andere Verfassung beschlossen.

5.) Der Bundesrat als Aspekt des von Van der Bellen gepriesenen Bundesstaats ist den Einen zuviel und den Anderen zuwenig. Ob es sinnvoll ist, für die geringen Kompetenzen, die der Bundesrat hat, ein derartiges Gremium und einen derartigen Aufwand zu betreiben, ist zweifelhaft. Und die Rettungsseilfunktion des Bundesrats, dass man ein im Nationalrat verunglücktes Gesetz im Bundesrat durch aufschiebendes Veto zurückverweisen kann in den Nationalrat, ist bei weitem zuwenig, um die Existenz und die Kosten eines Bundesrats zu rechtfertigen.

6.) Auch die Bundesländerstruktur ist nicht wirklich bundesstaatlich. Um die extrem hohe Macht, die Wien und Niederösterreich im österreichischen Bundesländergefüge haben, zu beschneiden, machte ich einmal den Vorschlag, Wien und NÖ zu teilen in je zwei bis vier Bundesländer (gerade für NÖ würden sich hier die vier Viertel anbieten).

Von den heutigen Parteien wird die Mehrheit von Wienern bzw. Ostregionleuten geführt (Kurz Wien/NÖ, Rendi-Wagner Wien, Meinl-Reisinger Wien, Hofer/Bgld nach Strache/Wien). Weil Wiener, Niederösterreicher und Burgenländer auch durch die geringe Distanz einen bevorzugten Zugang zur Hauptstadt und den dortigen Institutionen haben.

7.) Während Van der Bellen die Gewaltentrennung zwischen Exekutive (Vollziehung) und Legislative (Gesetzgebung) preist, ist sie in vielen Fällen nichtexistent oder mangelhaft: in Schweizer Bundes- oder Kantonalverfassungen gibt es Verbote oder Erschwernisse dagegen, dass Beamte als Exekutivmitglieder Legislativfunktionen einnehmen dürfen, die es in Österreich nicht gibt. Und Van der Bellen selbst ist als pragmatisierter Universitätsbeamter ein Beispiel für eine gewaltentrennungswidrige Beamtenkarriere über das Parlament, weshalb er alleine schon aus Selbstverteidigung die mangelhafte Gewaltentrennung schönreden muss. In dem Zusammenhang ist auch interessant, dass Van der Bellen die österreichische Verfassung mit der britischen Magna Charta vergleicht, die einen Ausgleich zwischen König und Adel und niemandem sonst schuf, wobei die heutige Entsprechung zum Adel und seinen Privilegien wohl die österreichische Beamtenschaft ist. Auch dass der österreichische Beamtenstaat an vordemokratische Traditionen aus der k.u.k.-Monarchie anknüpft, ist alles andere als ein Ruhmesblatt.

8.) die Realverfassung weicht in Österreich von der Formalverfassung oft weit ab: während die Verfassungsnovelle von 1929 formal den Bundespräsidenten stärkte und den Kanzler und das Parlament schwächte, entwickelte sich Österreich in den 1930er Jahren in die genau umgekehrte Richtung: die starken Männer, die Entwicklung bestimmten, waren die Kanzler (Dollfuss und Schuschnigg), während der formal gestärkte Bundespräsident Miklas in der Bedeutungslosigkeit versank.

9.) damit zusammenhängend, dass oft dieselbe Partei Kanzler und Präsident stellte (wie die Christlich-Sozialen in der ersten Republik), blieben die Verfassungs-Formulierungen, die eigentlich Kompetenzkonflikte zwischen Präsident und Kanzler regeln sollten, unpräzise und mehrdeutig: ob nun der Begriff der "Ernennung durch den Bundespräsidenten" wie im B-VG "Artikel 70.(1) Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt." eine rein symbolische Bestätigungspflicht oder ein Auswahlrecht bedeute, spaltet seit vielen Jahrzehnten die Verfassungsexperten in zwei Denkschulen, womit die Verfassung eigentlich verfassungswidrig ist, denn das Genauigkeitsgebot ist laut VfGH-Judikatur integraler Bestandteil des Gesetzesbegriffs. Die Mehrdeutigkeit der Verfassung war auch einer der Gründe für die "Wendekrise" des Jahres 2000, nämlich die verfassungsrechtliche unklare Rollenverteilung von Präsident und Parlamentsmehrheit bei der Regierungsbildung.

10.) Allgemein kommen die vielen Schwächen der österreichischen Verfassung vielleicht auch daher, dass die erste Republik, in der sowohl die Verfassung (1919, 1920) als auch die bedeutendste Verfassungsnovelle (1929) entstanden, geprägt waren von Konflikt zwischen den beiden Lagern bis hin zum "Bürgerkrieg 1934", und dass verfassungsgebender Konsens nicht möglich war, auch und sehr wesentlich wegen des Austromarxismus. Weil Österreich "Der Staat, den keiner wollte" (Buchtitel über die erste Republik) war, schluderten die Parteien auch bei der Verfassung. Anschluss-an-Deutschland-Denken, Revolutionstendenzen und Räterepublikssehnsucht verhinderten, dass man für dieses Österreich eine vernünftige Verfassung zimmerte.

11.) Van der Bellen mit seinem möglicherweise illegalen (Verstoss gegen §263 StGB) und verfassungswidrigen Wahlsieg ist ein Beispiel dafür, dass die Verfassung in Österreich niemanden so richtig interessiert: wenn die Meinungsumfragen vor dem ersten Wahlgang der Bundespräsdentenwahl korrekt gewesen wären (Van der Bellen war um bis zu 15% überbewertet) oder verboten, dann hätten die taktischen Wähler und -innen, die am liebsten Griss hatten, nicht Van der Bellen gewählt, um Hofer zu verhindern, was Van der Bellen in den zweiten Wahlgang gehievt haben könnte. So gesehen ist Österreich eine "Demoskopokratie", ein Staat, in dem die Meinungsforschungsinstitute herrschen, und keine Demokratie, wie in Artikel 1 der Verfassung vorgeschrieben. Auch ein Reihungswahlrecht a la Condorcet, Borda oder Schulze wäre eine Alternative zum manipulationsanfälligen und extremismusfördernden Präsidentenwahlgesetz.

Es ist Zeit, die Bruchbude Verfassung zu sanieren, bevor ihre Mängel totalitären Tendenzen Vorschub leisten und die Demokratie zerstören.

CC / Pietzner https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Joseph_I.

Kaiser Franz Joseph I. , neben der Beamtenschaft die Klammer der k.u.k.-Monarchie und nachwirkend, was das Bild des Budnespräsidenten betrifft, ebenso, was den Zusammenhang zwischen Präsidentschaft und Beamtenschaft betrifft.

Franz Joseph hatte aber den Beinamen "Weiterwurschtler", weil er nötige Reform unterliess, was zum Untergang seines Reiches beitrug. Ein Schicksal, das Österreich zu denken geben sollte.

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thurnhoferCC

thurnhoferCC bewertete diesen Eintrag 05.07.2020 11:31:52

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