Terroranschläge in Paris – Wie Solidarität funktioniert und wohin das führen kann?

In der letzten Nacht wurde Frankreich von einer Terrorwelle getroffen, die wohl  – nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Jänner d.J.  –  als die schwersten Terroranschläge zu bezeichnen sind, die Frankreich erlebt hat. In Fußballstadion Stade de France, in einem Konzertsaal, auf offener Straße und in Restaurants und Cafés fallen Schüsse aus Pistolen und Kalaschnikows, detonieren Bomben, sprengen sich Selbstmordattentäter selbst in die Luft.

Terroristische Gewaltübergriffe an sieben Orten haben zu einer Opferzahl von aktuell 128 Toten und 180 Verletzten bzw. Schwerverletzten geführt. Das Magazin Focus-Online spricht gar von 153 Toten, davon allein 112 im ausverkauften Konzertsaal des Musikclubs Bataclan.

Und bereits kurz nach der Attentatsserie erreichte Frankreich eine Welle internationaler Solidarität. US-Präsident Barack Obama trat noch in der Nacht an die Öffentlichkeit, bot „Unterstützung“ an und sprach von einer „Attacke auf die Menschlichkeit“. US-Außenminister Kerry verurteilte die Anschläge hart und bezeichnete sie als "Übergriff auf unsere gesamte Menschheit". Laut Twitter erfolgte am Times Square eine Schweigeminute für die Pariser Opfer, – das One World Center in New York und das Rathaus von San Francisco wurden solidarisch in die Farben der französischen Nationalflagge gehüllt. - Auch der kanadische  CN-Tower in Toronto leuchtet Blau-Weiss-Rot.

Großbritianniens Premierminister Cameron schrieb in einer Textnachricht „Our thoughts and prayers are with the French people. We will do whatever we can to help.”EU-Kommissionschef Juncker und EU-Ratspräsident Tusk drückten dem französischen Präsidenten Solidarität mit den Franzosen und französischen Behörden aus. Ebenso der UN-Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der die Anschläge scharf verurteilte.

Italiens Ministerpräsident Renzi bekundete Solidarität und erklärte u.a.: „Italien weint um die Opfer von Paris und ist vereint im Schmerz mit den französischen Brüdern.“. Auch der Vatikan schaltet sich ein: Vatikan-Sprecher Federico Lombardi bezeichnet die Gewalt als „Angriff auf den Frieden aller Menschen“.

Per Telegramm ließ Spaniens Ministerpräsident Rajoy Präsident Hollande und Innenminister Valls wissen, dass sie im „kompromisslosen Kampf gegen die terroristische Barbarei selbstverständlich mit aller Kooperation“ aus Spanien rechnen können. Solidarität und Kooperationsangebote übermittelte auch der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu, der die Attacken als Angriff gegen die Menschlichkeit verurteilte; - Anteilnahme auch vonseiten des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und des polnischen Außenministeriums.

Aber auch Staaten, in denen gravierende Menschenrechtsverletzungen, Folterungen und politische Verfolgung an der Tagesordnung stehen meldeten sich Solidarität bekundend zu Wort: So erklärte Chinas Präsident Xi Jinping Frankreich im Kampf gegen den Terrorismus zur Seite zu stehen während der iranische Präsident Hassan Ruhani die Anschläge als „unmenschliches Verbrechen“ verurteilt.

Der deutsche Bundesinnenminister de Maizière bot Frankreich Unterstützung durch deutsche Anti-Terror-Spezialkräfte an. Ebenso zeigen sich Deutschlands Bundespräsident Gauck und Außenminister Frank-Walter Steinmeier betroffen und demonstrierten entschlossene solidarische Haltung. Bundeskanzlerin Merkel, die bereits in der Nacht ihrer tiefen Erschütterung Ausdruck verlieh, bedauerte in ihrer heute um 9 Uhr morgens erfolgten Ansprache, den „Albtraum“ aus „Terror, Angst und Gewalt“, den die Menschen in Paris durchleben müssen. „Dieser Angriff auf die Freiheit meint nicht nur Paris, er meint uns alle, er trifft uns alle.“ sagt sie und bekräftigt weiter: „Wir leben von der Mitmenschlichkeit, von der Nächstenliebe, (…)  wir glauben an das Recht jedes Einzelnen sein Glück zu leben“.

Und so deutlich, ehrlich, notwendig und angebracht internationale Staaten nun Mitgefühl, Solidarität und ihre Entschlossenheit im 'Kampf gegen Terrorismus' ausdrücken, so wird dadurch leider auch eine gravierend ungleiche Wertbemessung von Menschenleben auf bittere Weise augenfällig. Denn ein europäisches Menschenleben scheint mehr als tausendmal ‚mehr Wert’ beigemessen zu werden als einem Menschenleben nicht europäischer Herkunft.

Löste nun der gestrige Terror in Paris mit 128 Todesopfer und noch mehr Verletzten eine gebührende internationale Solidarität aus, so blieben die mehr als 220.000 Menschenleben, die der Krieg in Syrien  forderte, bisher ohne internationale Beachtung und Solidarität scheinbar auf der Strecke. - Ebenfalls völlig unbeachtet und ohne internationale Solidaität und Hilfsangebote blieben die am Donnerstag, also einen Tag zuvor in Beirut einem Terroranschlag in einem Einkaufszentrum zum Opfer gefallenen Libanesen?

Wo waren, sind und bleiben das öffentliche Entsetzen, internationale Solidarität, Kooperations- und Hilfsangebote für jene, für die Terror, Krieg, rohe Gewalt, familiäre Todesopfer und gesteigerte Lebensgefahr zur Alltäglichkeit geworden ist? Wo war, ist und bleibt internationale Anteilnahme an mehreren hunderttausend Todesopfern? Und wo waren, sind und bleiben solidarische Hilfs- und Kooperationsangebote in Bezug auf die überlebende Zivilbevölkerung eines terroristischen Schreckens, die teils als Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea, Somalia, Afghanistan … vor den Grenztoren der westlichen Demokratien stehen?

Klingt es ‚nur mir’ als höhnisch und etwas ignorant anmutend, wenn nun von einem „Angriff auf die Menschlichkeit“ oder auf die ganze „Menschheit“ die Rede ist? Hört – wenn man den internationalen Umgang mit Syrien und der Terrororganisation IS betrachtet – ‚Menschheit und Menschlichkeit’ an Staatsgrenzen westlicher bzw. europäischer Staaten auf?

Erscheint es ‚nur mir’ nun fast ein wenig heuchlerisch, dass notwendige „Solidarität“, „Gemeinsamkeit“, "Hilfe" und „Zusammenhalt westlicher Gemeinschaften“ nur dann funktionieren, wenn es sich um terroristische Anschläge auf westliche (weisse und christliche?) Menschen handelt? Nicht aber, wenn es eine sechsstellige Anzahl an unschuldigen zivilen Todesopfern oder eine weltweit achtstellige Anzahl an Flüchtenden anderer Hautfarbe und vielleicht anderen Glaubens betrifft?

Ist Rassismus in Europa und westlichen Demokratien noch derart verinnerlicht und alltäglich, dass uns seine Anwesenheit im Rahmen politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen und Vorgehensweisen gar nicht auffällt? Dass uns somit auch gar nicht auffällt, dass wir unsere Werte wie westliche ‚Freiheit’, ‚Fortschritt’ ‚Liberalismus’ schon längst an einen subtil faschistoid und rassistisch agierenden Gier-ist-geil-Kapitalismus abgetreten haben, der nur dann Solidarität und Hilfe praktiziert, wenn Bares oder profitable Geschäfte winken und Bodenschätze zu rauben sind? Der nur dann Solidarität zeigt, wenn der Terrorismus aus dem TV herausgeschwappt ist und ihn nun selbst betroffen macht und bedroht?

Wodurch definieren sich Begriffe wie ‚Gemeinschaft’, ‚Zusammenhalt’ und ‚Solidarität’ in westlichen Demokratien, wenn sie nur und ausschließlich in profitablen Bündnissen und angesichts eines gemeinsamen Feindes (dem IS) funktionieren, nicht aber gegenüber Menschen, - die im eigenen Land von Not, Krankheit und Armut betroffen sind oder aus ihrem, einem fremden Land flüchten mussten?  –   Wie ist ‚Kooperation’ zu definieren, wenn eine faire und gerechte Verteilung von Schutzsuchenden und AsylwerberInnen von der aktuell proklamierten ‚internationalen Solidarität’ ausgeklammert wird; - und EU-Grenzstaaten oder Länder, die an Konfliktgebiete grenzen und deren Flüchtlingslager völlig überfüllt sind 'ohne internationale Hilfe' im Stich gelassen werden?

Wenn ich die aktuellen Vorgehensweise beobachte, so erscheint es plausibel, warum ein mit aller Selbstverständlichkeit rassistisch und armutsverachtend agierendes Europa ein massiv wachsendes Problem mit Fremdenhass und Rechtsextremismus hat. Denn wie etwas bekämpfen, das man selbst mit seiner Haltung darstellt und damit reproduziert?

Betrachtet man die Gangart der gesamten westlichen Welt etwas genauer und über einen längeren Zeitraum hinweg, so führt eine ‚nur auf sich selbst begrenzt gedachte’ Menschheit, Menschlichkeit und Solidarität leider nur zu einem Gewinner: Einem modernen egozentrierten wie selbstüberhöhenden Nationalsozialismus. Der, – wie zu erwarten ist – die gestrigen Terroranschläge von Paris bereits in Kürze als eigennütziges, Angst erzeugendes Argument gegen moslemische MigrantInnen und Flüchtlinge missbrauchen wird. – Ein gestärktes Selbstbewusstsein von Rechtsextremisten und ein Anwachsen rechtsextremistischer Gewaltübergriffe inklusive.

Mit etwas mehr Anstrengung könnte es aber auch anders kommen und es könnte das passieren, was sich viele – auch ich – schon lange wünschen. So könnte die internationale Staatengemeinschaft einfach auch Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen praktizieren und gemeinsam endlich an der Ursache der Flucht ansetzen. D.h.: Gemeinsam und solidarisch mit Syrern könnte eine internationale Staatengemeinschaft wohl in der Lage sein, der großen wie größenwahnsinnig psychopatischen Terrormacht IS endlich den Garaus zu machen.

Und während ich diesen Blog nun fertig stelle, ist gerade eine Ansprache von US-Aussenminister Kerry auf n-tv zu sehen, er sagt: „Es ist Zeit, dass das Bluten in Syrien aufhört“. – Ich hoffe, auch hinsichtlich der sinnlosen Terroropfer von Paris, –  deren Angehörigen ich mein Mitgefühl ausdrücken möchte – dass dieser Aussage solidarische und international gemeinschaftliche Taten folgen. Auf dass auch die allgemeine Anteilnahme, die derzeit in Hashtags wie #PeaceForParis und #JeSuisParis Ausdruck findet, nicht nur mitfühlende Worte bleiben sondern auch eine baldige Kursänderung ankündigen.

Quellen:

--> ARD-Tagesschau: https://www.tagesschau.de/anschlaege-paris-111.html--> Focus-Online: http://www.focus.de/politik/ausland/anschlag-in-paris-im-live-ticker-60-tote-explosionen-schiessereien-und-geiselnahme-mit-100-menschen-in-paris_id_5087185.html--> Taz.de: 220.000 Tote in Syrien: - http://www.taz.de/!5012256/--> Breaking News auf dem TV-Nachrichtensender n-tvMenschenrechtslage im Iran:--> http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/welt/weltpolitik/765602_Menschenrechtslage-im-Iran-unter-Rohani-verschlechtert.html--> Länderinfo zum Iran auf Amnesty International--> http://www.humanrights.ch/de/service/laenderinfos/iran/Menschenrechtslage in China:--> https://www.amnesty.de/laenderbericht/china--> http://www.spiegel.de/politik/ausland/amnesty-international-wirft-china-mittelalterliche-foltermethoden-vor-a-1062383.html

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