Arthur Schnitzler, in dessen Werk man die jüdischen Motive und Figuren nicht zwischen den Zeilen zu suchen braucht, behauptet in einem Brief: „Ich leide nicht im geringsten unter meiner jüdischen Abstammung.“ So ganz überzeugend ist das nicht. Denn in seinem erst für die postume Veröffentlichung bestimmten Tagebuch notiert er: „Wie schön ist es, ein Arier zu sein – man hat sein Talent so ungestört.“ In der Tat wurde Schnitzler immer wieder verleumdet und bösartig angegriffen.
„Weil ich Jude war“ – schrieb Sigmund Freud – „fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellektes beschränkten; als Jude war ich darauf vorbereitet, in die Opposition zu gehen …“ Das gilt in hohem Maße auch für Schnitzler. Aber Schnitzlers Werk ist noch in einer ganz anderen Hinsicht charakteristisch für den Beitrag der Juden zur deutschen Literatur: Vorurteilsfrei und provozierend, verblüfft es zugleich durch eine Synthese hervorstechender Eigentümlichkeiten, die mit der Herkunft aus dem Judentum, aus dem Getto zu tun haben – mit der Synthese von Schwermut und jahrhundertelang entbehrter Lebensfreude, von ungewöhnlicher Leidensfähigkeit und einer durch das Elend der noch unfernen Vergangenheit gesteigerten Genusssucht.
„Wenn man den Juden, den Österreichern oder den Deutschen „was Schlimmes nachsagt“, dann fühle er sich jeweils beleidigt. Wir haben es also mit einer dreifachen Identität zu tun, freilich mit einer, die offenbar bloß aus dem Negativen herrührt. Jakob Wassermann, einer der meistgelesenen Erzähler der Weimarer Republik, bekannte sich ebenfalls zu einer Bahn mit zwei Mittelpunkten: Er sei Deutscher und Jude zugleich, und zwar „eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen“. Doch auch ihm, dem von großen Publikumserfolgen verwöhnten Romancier, blieben herbe Enttäuschungen nicht erspart.
1921 versetzte er die Öffentlichkeit mit einer Schrift in Erstaunen, die man gerade von Wassermann am wenigsten erwartet hatte – mit dem autobiographischen Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“. Sein Fazit: „Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören … Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches. Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: Er ist ein Jude.“
Thomas Mann war mit der alarmierenden Selbstdarstellung seines Kollegen überhaupt nicht einverstanden. Wassermann dürfe sich doch nicht über Unrecht beklagen – schreibt er –, da zumindest einige seiner Romane außerordentlich erfolgreich seien. Überdies sei das jüdische Publikum „heute in einem Maße weltbestimmend, dass der jüdische Künstler sich eigentlich geborgen und in der Welt zu Hause fühlen könnte“. Wie aber ist es mit dem Antisemitismus?
Davon weiß Thomas Mann nichts – oder er möchte nichts wissen: „Ein nationales Leben, von dem man den Juden auszusperren versuchte, in Hinsicht auf welches man ihm Misstrauen bezeigen könnte, gibt es denn das überhaupt?“ Es will ihm nicht einleuchten, dass Deutschland ein Boden sein sollte, „worin das Pflänzchen Antisemitismus je tief Wurzel fassen könnte“. So Thomas Mann im Jahre 1921.
Wassermann antwortete sofort. Der Konflikt, an dem er zu leiden habe, sei für Menschen „von Ihrer Art, Ihrer Erziehung, Herkunft und inneren Verfassung“ wohl kaum greifbar: „Was hätten Sie empfunden, wenn man aus Ihrem Lübecker- und Hanseatentum ein Misstrauensvotum konstruiert hätte?“ Da Thomas Mann getan hatte, als sei ihm ein deutscher Antisemitismus ganz und gar unbekannt, musste er sich jetzt von Wassermann belehren lassen, dass Juden in Deutschland weder Richter noch Staatsanwälte oder Offiziere werden könnten und dass den Gelehrten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Katheder versperrt blieben.
Als Thomas Mann 1935, während seines Aufenthalts in der Schweiz, diesen Brief an Wassermann aus dem Jahre 1921 zu sehen bekam, äußerte er sich hierzu in seinem Tagebuch auffallend wortkarg: Er sei damals „unerlaubt gutgläubig“ gewesen. Das ist eine Beschönigung, die wohl mit Thomas Manns schlechtem Gewissen zu tun hat: Nicht gutgläubig waren seine Belehrungen und auch nicht weltfremd. Denn was er um 1921 seinem Tagebuch anvertraut hatte, zeigt, dass in jener Zeit bisweilen auch er von abfälligen Äußerungen über Juden nicht absehen mochte.
Der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Jakob Wassermann macht etwaige Illusionen zunichte: In der Weimarer Republik lebten jüdische und nichtjüdische Schriftsteller, ungeachtet unzähliger Kontakte und auch Freundschaften, doch in zwei verschiedenen Welten. Dies lässt auch eine andere, nicht minder wichtige Überlegung Thomas Manns erkennen.
In seinem 1909 veröffentlichten Roman „Königliche Hoheit“ fragt der Großherzog einen Arzt, Doktor Sammet, ob dieser die jüdische Herkunft je als ein Hindernis auf seinem Wege, als Nachteil im beruflichen Wettstreit empfunden habe. Doktor Sammet will diese Frage weder bejahen noch verneinen. Kein gleichstellendes Prinzip – sagt er – könne verhindern, „dass sich inmitten des gemeinsamen Lebens Ausnahmen und Sonderformen erhalten“. Der Einzelne, also der Jude, werde gut tun, „nicht nach der Art der Sonderstellung zu fragen“, vielmehr daraus „eine außerordentliche Verpflichtung“ abzuleiten. Denn durch die Nichtzugehörigkeit zur Mehrheit habe man eine weitere Veranlassung zu bedeutenden Leistungen. Ein ungewöhnlicher Befund, eine schon erschreckende Empfehlung: Sollten die Juden dafür dankbar sein, dass sie eine „Sonderstellung“ hatten und eine Minderheit waren? In der Tat sieht Thomas Mann in einer nach dem Ersten Weltkrieg geschriebenen Arbeit das Judentum als „eines jener Symbole der Ausnahme und der hohen Erschwerung, nach denen man mich als Dichter des öfteren auf der Suche fand“.
Sein Werk belegt diese Äußerung: Die Menschen, die im Mittelpunkt seiner Romane und Erzählungen die Ausnahme und die hohe Erschwerung symbolisieren, sind in der Regel Künstler, Homosexuelle und Juden. Dagegen ist natürlich nichts zu sagen. Nur hätten die Juden selber – und hier geht es um die Kreativen unter ihnen, zumal um die Schriftsteller – auf ihre Ausnahmesituation, deutlicher: auf den angeblich stimulierenden Einfluss der Verfolgung gern verzichtet. Statt jenes „natürlichste Dasein“ genießen zu können, nach dem sich schon Rahel Varnhagen gesehnt hat, mussten sie sich unentwegt vor den Nichtjuden ausweisen und bewähren.
Albert Einstein hat sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg mokiert: Wenn sich seine Theorien als richtig herausstellen sollten, dann werde er für die Deutschen ein Deutscher sein und für die Franzosen ein Europäer. Sollten sie sich aber als falsch erweisen, dann werden ihn die Franzosen für einen Deutschen ausgeben und die Deutschen für einen Juden. Diese „hohe Erschwerung“, die den Juden das Leben oft unerträglich machte und die mitunter auch ihre großen Leistungen ermöglichte, war ihnen selber keineswegs recht. Die Nichtjuden applaudierten und riefen ihnen zu: Bitte leidet weiter, bewahrt doch eure „Sonderform“, denn es sind ja gerade eure Leiden, die euch auszeichnen, die euch attraktiv und interessant machen.
Die Juden empfanden diese Zustimmung, mochte sie auch bisweilen freundlich gemeint sein, eher als unheimlich. Die Söhne und Enkel jener, die nach Jahrhunderten dem Getto entkommen waren, sehnten sich nach einer Heimat, nach einem Hafen. Einer von ihnen, Gustav Mahler, sagte knapp, er sei „dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude unter allen Nationen der Erde“.
So viel zur Geschichte: Das waren die schwellenden Anfänge einer geopolitischen Veränderung im Nahen Osten, an eine Zukunft gerichtet, welche - heute so viele Seelen zu bedauern hat.