Über die zunehmend unglaubwürdigen Versprechungen des Kulturbetriebs​

"[…]Daraus ergab sich ein Dilemma für die Gesellschaften des Westens, die sie bis heute nicht überwunden haben und ganz besondere für die gebildete Mittelschicht, die sich noch heute als Motor des sozialen Gefüges begreift. Ihr moralischer Anspruch gründet sich auf die Idee von Demokratie und universellen Menschenrechten. […] Ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihr Wohlstand aber gründen sich auf ein lange zurückreichendes Erbe: Auf ein sie begünstigendes Wachstum, das auf Ausbeutung beruht, auf einer Ausbeutung, die sich niemals mit den Ansprüchen der Aufklärung vereinbaren lässt." (Philipp Blom)

Jüngst wurde ich bei einer Diskussionsveranstaltung bei der Präsentation des Projektes "Schule INKLUSIVE kulturelle Bildung" gefragt, ob kulturelle Bildung zu demokratischen und toleranten Haltungen der Beteiligten führt. Die Frage machte mich verlegen, weil kulturelle Bildung, wenn sie auf Liberalität und Vielfalt gerichtet ist, demokratiepolitische Wirkungen hervorrufen kann, aber nicht notwendig muss. Zu intensiv sind Erinnerungen an fatale Fehlentwicklungen, wenn etwa weite Teile einer progressiven Reformpädagogik der Zwischenkriegszeit scheinbar nahtlos Eingang in die nationalsozialistische Ideologiebildung gefunden und auch andere totalitäre Regime großen Wert auf ein propagandistisch verwertbares Angebot kultureller (Volks-)Bildung gelegt haben.

Es kommt schlicht – so meine Mentalreservation – auf die jeweilige politische Haltung derer an, die kulturelle Bildung betreiben. Was zählt ist die Selbstinterpretation der Beteiligten als an Gesellschaft mitwirkende AkteurInnen (und nicht nur als deren hilfs- und förderbedürftige Leidtragende), die darüber entscheiden, ob kulturelle Bildung dazu beiträgt, den Status quo zu beschönigen (und damit zu befestigen) oder ihn in Frage zu stellen. Sie wissen sich in ihren Bemühungen entweder eingebettet in die aktuellen politischen Konflikte oder aber sie meinen, sich mehr oder weniger naserümpfend davon abheben zu können.

Dass die Gewinnung einer solchen Haltung nicht einfach ist, wurde mir zuletzt bei der Lektüre von Philipp Bloms Geschichte der Kleinen Eiszeit "Die Welt aus den Angeln" bewusst. Er porträtiert darin Voltaire als einen typischen Vertreter eines, gesellschaftliche Dominanz anstrebenden Bürgertums, der einerseits als Schutzpatron von Demokratie, Meinungsfreiheit, Menschenrechten und Toleranz auftritt und andererseits seine Lebensgrundlagen auf dem Rücken afrikanischer Sklavenarbeit schafft und dies auch offensiv legitimiert: "Wir kaufen ausschließlich Neger als Haussklaven […] Ein Volk, das seine eigenen Kinder verkauft, ist verdammenswerter als der Käufer. Dieser Handel zeigt auch unsere Überlegenheit: derjenige, der einen Meister akzeptiert, wurde geboren, ihn zu haben."

Mit dieser existentiellen Widersprüchlichkeit tritt eine paradigmatisch gebrochene Figur in die Welt, die sich einerseits in einer auf vielfältiges Zusammenleben gerichteten Gesellschaft verortet und doch seine Lebensgrundlagen aus der Ausbeutung gesellschaftlicher Ungleichheit bezieht.

Die auf Voltaire folgende Geschichte kann als immer wieder neu entfachter Kampf zur Auflösung dieses Widerspruchs gelesen werden. In aufeinander folgenden politischen Wellenbewegungen forderten die an dieser Doppelmoral Leidenden, dass Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur theoretisch verkündet, sondern auch praktisch gelebt werden müsse.

In diesen Auseinandersetzungen kam dem Kulturbetrieb immer wieder eine herausragende, wenn auch symbolische Rolle zu. Als Bühne der Aufklärung machte er sich für die Propagierung der bürgerlichen Ideale von Gleichheit und Toleranz stark. Im Zuschauerraum aber fanden sich vor allem diejenigen ein, deren Wohlhabenheit sich aus den bestehenden Ausbeutungsverhältnissen speiste. Alle anderen wurden im Kampf um soziale Distinktion nur sehr bedingt als befähigt erachtet, an der Zelebration der bürgerlichen Tugenden aktiv mitzuwirken.

Diejenigen, auf deren Rücken sich der Kulturbetrieb die längste Zeit erhoben hat, hatten auf Dauer keine Lust, sich ausschließen zu lassen. Sie forderten eine Kultur, die Gleichheit nicht nur als luxuriöses Freizeitvergnügen einiger weniger verhandelte, sondern ganz konkret mithelfen sollte, bestehende Ungleichheiten zu verringern. Die mit dem Aufkommen sozialistischer Bewegungen verbundenen Versuche einer proletarischen Gegenkultur in der Zwischenkriegszeit sind dafür wahrscheinlich der eminenteste Beleg.

Diese Versuche sollten sich auch in der Nachkriegszeit noch einmal zuspitzen. Es waren die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre, die dem etablierten Kulturbetrieb wiederum in aller Deutlichkeit unterstellte, ein Herrschaftsverhältnis zu repräsentieren, das die Menschen strukturell ungleich mache. Eine – wie selbst der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky meinte – "durchaus radikale Kulturpolitik" sollte sich an die Entwicklung neuer kultureller Umgangsformen machen, die sich unmittelbar auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Ausgebeuteten und Unterdrückten beziehe. "Schlachtet die heiligen Kühe!" forderten selbst prononcierte Künstlerpersönlichkeiten wie Pierre Boulez, in der Hoffnung, damit die wahren Absichten einer bourgeoisen kulturellen Hegemonie zur Aufrechterhaltung bestehender Ungleichheiten zu dekuvrieren.

Obwohl sich bereits damals einzelne Kunst- und Kultureinrichtungen darum bemühten, mit ihrem Programm ein bislang vernachlässigtes Publikum anzusprechen, gingen diese Bemühungen vor allem einer außerparlamentarischen Opposition nicht weit genug. Sie setzten auf einen neuen, auf einen anderen Kulturbegriff. Vor allem eine junge Szene wollte sich nicht mehr mit der Scheinheiligkeit eines etablierten Kulturbetriebes abspeisen lassen, der gerne von allen sprach und doch nur einige Auserwählte meinte.

Zum Ausbruch kam damals ein symbolischer Kampf zwischen "Elite" und "Volk", der damals vor allem von Links vorgetragen wurde und in einer sozialdemokratischen Reformpolitik seine Synthese finden wollte. Die damals regierende Sozialdemokratie versprach die Überwindung der bestehenden sozialen Ungleichheiten durch ein umfassendes Programm der Vermittelständigung. Ihr Ziel war es, die überkommenen Klassenschranken zu überwinden und früher oder später alle Teile der Bevölkerung am gesellschaftlichen Reichtum zu beteiligen. Diese Absichten sollten sich auch kulturpolitisch niederschlagen, wenn sich mit der Öffnung der traditionellen Kulturinstitutionen alter und neuer Kulturbetriff zusammenfinden und auf dieser Grundlage ein gleichermaßen attraktives Angebot für alle Interessierten bzw. Interessierbaren entwickelt würde.

Das Reformprojekt der allgemeinen Vermittelständigung ist am Ende und mit ihm die bisherige Funktion des Kulturbetriebs

Es ist anders als beabsichtigt gekommen. Spätestens mit dem Ende des politischen Primats der Vollbeschäftigung 1983 geriet der Kurs wachsender Vermittelständigung ins Schlingern. Das Scheitern dieses zentralen Reformprogramms ließ den deutschen Sozialwissenschafter Ralf Dahrendorf bereits 1992 bereits davon sprechen, die Sozialdemokratie wäre am Ende ihrer Kunst angelangt. Während aber andere GesellschaftstheoretikerInnen im Zeichen der postmodernen Verabschiedung der großen Erzählungen nicht müde wurden, das Ende der Klassengesellschaft zu verkünden, musste spätestens mit dem Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Überwälzung der Belastungen auf die sozial Schwachen für jede/n BeobachterIn klar sein, dass die westlichen Gesellschaften (gleich in welcher Regierungskonstellation) in eine neue Phase der sozialen Verungleichung (oder wie der US-Investor Warren Buffett meinte, in einen neuen Krieg zwischen Reich und Arm) eintreten. Der Traum einer reformorientierten Sozialdemokratie, die sich dauerhaft als erfolgreicher Arzt am Krankenbett des Kapitalismus (Fritz Tarnow) bewährt, ist jedenfalls bis auf weiteres ausgeträumt.

Als eindeutiger kulturpolitischer Fortschritt kann der Umstand gesehen werden, dass weite Teile der BefürworterInnen eines erweiterten Kulturbegriffs der 1970er Jahre in der Zwischenzeit Eingang in den etablierten Kulturbetrieb gefunden haben. Weit weniger überzeugend ist es gelungen, neue, bislang unberücksichtigte Teile der Bevölkerung vor allem für das staatliche privilegierte Kulturangebot zu interessieren. Sie haben sich stattdessen in Richtung kommerzieller Angebote der Kultur- und Medienindustrie verabschiedet, das sich weitgehend frei von sozialen Distinktionsansprüchen weiß.

Ich berichte diese Vorgeschichte vor dem Hintergrund der Frage, welche Auswirkungen die aktuellen, vor allem von rechts vorgetragenen gesellschaftlichen Polarisierungsversuche auf das Kulturgeschehen zu erwarten sind. Immerhin erleben viele Mitglieder des Kulturbetriebs die aktuellen Unterstellungen rechtspopulistischer und rechtsradikaler Kräfte, einer gegen das Volk gerichteten Elite bzw. Schickeria anzugehören, noch als einen unverständlichen Affront.

Vielleicht ist dieses Auseinanderbrechen eines stillen Einverständnisses besser verstehbar mit der Analyse des französischen Soziologen Didier Éribon, der der Linken angesichts des Scheiterns ihrer Reformagenda vorwirft, sie hätte ihre Wählerschaft verraten. Im Versuch von Blair, Schröder und Co um jeden Preis an der Macht zu bleiben, hätten sich ihre Wortführer von ihrem Ursprungsmilieu abgewendet, um den Preis, das wachsende Heer der sozial Benachteiligten führerlos ihrem Schicksal zu überlassen. Ein aktuelles Sujet im Rahmen der Wahlwerbung von Martin Schulz macht das unmittelbar deutlich.

In dieses Vakuum seien laut Éribon mittlerweile rechte Kräfte gestoßen, die in der Behauptung der Übernahme der Interessen der aktuellen KrisenverliererInnen ein weites, noch dazu von keinen anderen politischen Kräften beanspruchtes Betätigungsfeld gefunden haben. Ihr fragwürdiges Verdienst ist es, die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit zu thematisieren und auf ihre politischen Mühlen umzuleiten. Ihr Ziel ist es freilich nicht, die Ursachen des erneuten Anstiegs der gesellschaftlichen Polarisierung aufzuzeigen und zu bekämpfen, sondern die Umlenkung der dabei auftretenden Aggressionen auf eine neue Generation von Volksfeinden, seien es MigrantInnen, MuslimInnen oder KünstlerInnen und andere RepräsentantInnen des Kulturbetriebs (siehe dazu etwa die aktuellen Anfeindungen der Kronen-Zeitung gegenüber der Autorin Stefanie Sargnagel.

Der verhängnisvolle Irrtum, der sich in diesem Zusammenhang für mich auftut, besteht darin, dass sich weite Teile des Kulturbetriebs ungeachtet des fundamentalen politischen Wandels, der auch Österreich erreicht hat, nach wie vor im Modus der Vermittelständigung als vorrangiges Handlungsprinzip sehen. Ungebrochen gehen sie davon aus, dass ein hinreichend attraktives Angebot früher oder später dazu führen würde, dass sich breitere Teile der Bevölkerung in der Erwartung auf soziale Gratifikationen für sie interessieren und damit die Fortsetzung ihrer staatlichen Privilegierung unterstützen werden. Und wenn sie es seit den 1970er Jahren nicht geschafft haben, eine signifikante Veränderung ihrer Zielgruppen zu erreichen, dann – so die Hoffnung – wird vielleicht ein Professionalisierungsschub der beteiligten VermittlerInnen früher oder später doch die gewünschte Trendumkehr bewirken.

Die Rufe zur "Schlachtung der heiligen Kühe", diesmal von rechts

Diese Art der Hoffnungsproduktion lässt außer Acht, dass die angedeutete politische Pendelbewegung u.a. ein wachsendes Potential erzeugt, dass sich zunehmend offen gegen das Angebot eines Kulturbetriebs stellt, der es in den letzten Jahren ganz offensichtlich nicht geschafft hat, seine Relevanz in weiten Teilen der sogenannten "einfachen Leute" zu erhöhen. Und wieder ertönen Rufe zur "Schlachtung der heiligen Kühe" in der Öffentlichkeit. Sie kommen diesmal freilich nicht von links, um damit dem Bedarf größtmöglicher Vielfalt und Offenheit Ausdruck zu geben, sondern von rechts verbunden mit der Erwartung, dass jetzt Schluss sein muss mit der staatlichen Priorisierung derer, die es sich in sozialverräterischer Weise in ihren Elfenbeintürmen gerichtet haben.

Philipp Blom spricht am Ende seines Buches "Die Welt aus den Angeln" von einer zunehmenden Überlagerung des liberalen durch einen autoritären Traum. Die besondere Tragik, die wir im Moment erleben, besteht darin, dass der autoritäre Traum nicht nur von einer kleinen Minderheit machtgieriger PolitikerInnen geträumt wird, sondern ebenso intensiv von wachsenden Teilen der nationalen Bevölkerungen, die ihre Hoffnungen aufgegeben haben, liberale Politikkonzepte würden ihnen nochmals einen überzeugenden Weg in eine bessere Zukunft weisen. Diese Form der gesellschaftlichen Resignation schließt ein noch so gut gemeintes Angebot eines liberal gestimmten Kulturbetriebs, der über kein genuines Konzept im Umgang mit sozialer Ungleichheit verfügt, mit ein.

Die Klassengesellschaft hat uns wieder und die zukünftige Relevanz des Kulturbetriebs wird davon abhängen, welche Rolle er darin einzunehmen beabsichtigt

Dies bewirkt meines Erachtens den Bedarf eines grundsätzlichen Überdenkens des staatlichen Kulturangebotes. Deren VertreterInnen sehen sich – wie sich am Beispiel der Etablierung einer illiberalen Demokratie im Nachbarland Ungarn beispielhaft zeigen lässt – nicht nur dem Druck einer neuen, autoritär gestimmten politischen Führung ausgesetzt, sondern auch wachsenden Anfeindungen breiter Teile der Bevölkerung, die meinen, besser ohne diese gutmeinenden Störenfriede auskommen zu können.

Angesichts der weitgehend unerwarteten Rückkehr der Klassengesellschaft und der damit zu erwarteten Radikalisierung auch der (kultur-)politischen Verhältnisse könnten wir uns fragen, ob ein "more of the same" ausreichen wird, die Stellung des Kulturbetriebs im gesellschaftlichen Gefüge zu halten oder ob ihre EntscheidungsträgerInnen angesichts des gefährlichen Auseinanderdriftens der Gesellschaften sich noch einmal dazu entschließen können, die Funktion und Rolle ihrer Einrichtungen grundsätzlich zu überdenken. Die halbherzige Taktik des Türenöffnens auch für "sozial Benachteiligte" wird nicht ausreichen; eher schon die offene Parteinahme im erneuerten Kampf zwischen "Elite" und "Volk" für all diejenigen, die von der etablierten Politik zunehmend an den Rand gedrängt werden. Ein Aspekt, der sich auch auf die Frage nach der Demokratie- und Toleranzverträglichkeit von kultureller Bildung anwenden ließe. Voltaire könnte uns dabei zu denken geben.​

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Silvia Jelincic

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