Und schon wieder hatte ich einen ihrer Tricks durchschaut. Sie wollten sich nicht nur nicht ändern, es war längst alles vorbereitet; sie hatten vor, mich für verrückt zu erklären. Wenn sie mich dann fraßen, wäre nicht nur alles, als wäre nichts gewesen, manch einer wäre ihnen womöglich auch noch dankbar. Es war das gleiche Vorgehen wie in der Erzählung vom Pächter, wo alle zusammen einen Schurken gegessen hatten. Es war ihr altes Muster!

Auch Chen Laowu marschierte schnurstraks und wutschnaubend herein. Als ob man mir den Mund hätte verbieten können, ich bestand darauf, ihnen Folgendes zu sagen:

"Ihr könnt Euch ändern, vom Grund eures Herzens auf ändern! In Zukunft werden Menschen, die Menschenfleisch essen, in der Welt nicht mehr geduldet, macht Euch das klar!

Wenn Ihr Euch nicht ändert, werdet Ihr einander auffressen. Ihr könnt noch so viele Kinder in die Welt setzen, die wahren Menschen werden sie ausrotten wie der Jäger den Wolf!-Wie Maden!"

Chen Laowu warf die Bande hinaus. Auch mein Bruder war, wer weiß wohin, verschwunden. Mich drängte Chen Laowu ins Zimmer zurück. Im Zimmer war es stockfinster. Die Dachbalken und -sparren über meinem Kopf bebten; bebten, wurden größer und begruben mich.

Tonnenschwere Last, unfähig mich zu rühren; das hieß, ich sollte sterben. Das Gewicht nicht echt war, das war klar, kämpfte mich hinaus, schwitzte am ganzen Leib. Bestand aber darauf zu reden: "Ändert Euch, sofort, vom Grunde Eures Herzens! In Zukunft können Menschen, die Menschenfleisch essen, nicht mehr geduldet werden, macht Euch das klar...!"

Lu Xun (1881-1936, auch geschrieben Lu Hsün) gilt als Begründer und wichtigster Vertreter der modernen chinesischen Literatur. Er beteiligte sich federführend an der sogenannten 4.-Mai-Bewegung

, die von 1919 an für eine kulturelle Erneuerung und Modernisierung Chinas kämpfte. Als Schriftsteller prägte er zugleich die Bewegung für eine neue chinesische Literatur, die ebenfalls Aufklärung des chinesischen Volkes und Kritik an elitären und unmenschlichen überlieferten Traditionen zum Ziel hatte und in der anstelle der tradierten, nur gebildeten Schichten geläufigen Schriftsprache eine allgemein verständliche Umgangssprache als neue Literatursprache entwickelt wurde.

Die Erzählung "Das Tagebuch eines Verrückten" wurde zum ersten Mal in der Zeitschrift "Neue Jugend" im Mai 1918 veröffentlicht und dann in die im August 1923 erschienene Textsammlung "Aufruf zum Kampf" aufgenommen.

Lu Xun selbst sagte dazu: "Bei einer zufälligen Lektüre des Tongjian ist mir aufgegangen, dass die Chinesen immer noch ein Volk von Menschenfressern sind, deshalb habe ich diesen Text geschrieben." Später sagte er zur Intention des Textes: "Er hat den Sinn, das Geschwür, das das Familiensystem und die konfuzianische Ethik darstellt, sichtbar zu machen."

Das "Tagebuch" gilt als der erste in moderner chinesischer Umgangssprache verfasste literarische Text des 20. Jahrhunderts. Doch nicht nur die neue Sprache, auch der ikonoklastische Inhalt, in dem mit der traditionellen chinesischen Kultur und Gesellschaft als einer Menschenfresser-Gesellschaft abgerechnet wird, wirkte wie ein Fanal auf die 4.-Mai-Bewegung von 1919. Die "normale" Welt wird auf den Kopf gestellt, der Wahn des Einzelnen verweist auf den Wahn der Gesellschaft, der Wahn des Einzelnen ist "normal", die "Normalität" der Gesellschaft der eigentliche "Wahnsinn".

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