Der Tiger der Fantasie ist grimmiger als der Tiger des Dschungels

Der Tiger der Fantasie ist grimmiger als der Tiger des Dschungels.

Diese asiatische Weisheit könnte auf viele Bereiche unseres Lebens zutreffen. Glaubt man doch oft, etwas nicht schaffen zu können.

Wie oft lässt man sich von den eigenen Gedanken in Angst und Schrecken versetzen?

Ich stand auf dem Altiplano, im Hochland von Südamerika. Vor mir türmten sich die Anden auf, der zweithöchste Gebirgszug unserer Erde. Bergspitzen, die bis in den Himmel ragten. Gewaltig, bedrohlich, fantastisch. Über 6000 Meter hoch ist der Gipfel, sein reiner weißer Gletscher leuchtet im starken Blau des Himmels. Dort oben spielt der Wind sein Spiel mit dem Schnee und den Wolken. Die Indios sagen, es sind die Geister ihrer Vorfahren, die auf diesen Bergen leben.

Die letzte Nacht im Zelt auf 4500 Meter war stürmisch. Der Wind rüttelte an den Zeltstangen. Schatten huschten hinweg, und es schien, als wären alle Sträucher rings herum lebendig. Die Fantasie zauberte Gestalten hervor, bedrohlich und furchteinflößend. Um zwei Uhr Nachts wollten wir losgehen.

Freddy Ramirez, ein Freund und Bergsteiger aus Ecuador, und ich. Der Wind hatte etwas nachgelassen. Ein grandioser Sternenhimmel, so klar wie ich ihn noch nie sah, verzauberte mich. Welche Unendlichkeit, wie klein, wie wenig wir doch sind, angesichts dieser unvorstellbaren Ewigkeiten.

Wir sprachen wenig, tranken Tee und aßen Kekse. Ich prüfte kurz meine Ausrüstung, und im Schein unserer Stirnlampen stiegen wir langsam aufwärts. Jetzt war ich allein, allein mit meiner Angst. Bedrohlich stieg vor mir ein Bergriese weit hinauf in den Himmel, es schien, als leuchteten die Sterne auf seinem Gipfel.

Nach vielen Stunden, durch hohes Gras und über Geröllfelder, standen wir an der Eis- und Schneegrenze. Im Osten leuchtete rot die Sonne und verzauberte den Himmel. Ein Kondor zog seine Kreise über unsere Köpfe, frei und unabhängig. Ohne Flügelschlag, nur vom Wind getragen. Glück ist ein ganz seltenes Gefühl, das aber die Unendlichkeit erahnen lässt, ein unbeschreibliches Gefühl. Da draußen, überall um uns, da ist noch vieles mehr.

Vieles, das wir wahrscheinlich nicht sehen können, nicht begreifen, aber vor allem auch nicht besitzen können. Ich genoss den kurzen Augenblick, um in die Ewigkeit zu schauen.

Langsam und sorgfältig schnallten wir uns die Steigeisen an und hängten uns an das Seil. Ich hatte Vertrauen. Freddy kannte diese Berge, er ist hier aufgewachsen. Respekt und Achtung hatte er vor diesen Eisgipfeln, er wusste, wie unberechenbar und launisch sie sein konnten. Wir hörten den Wind heulen und singen, Schneefahnen wirbelten weit hinaus in den Himmel.

Langsam stiegen wir weiter aufwärts, der Schnee knirschte unter meinen Füßen.

Photo:H.Erregger-Aufstieg auf den Chimborazo Ecuador.

Fortsetzung folgt : Teil Zwei

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