Möchte ein Thema nochmal aufgreifen: Was ist Meinung, was ihre Freiheit?

Wenn Jan Böhmermann ein Schmähgedicht über den bestbezahltesten Türsteher Europas vorträgt? Dann ist der Inhalt nicht seine Meinung. Er meint nur, die divenhafte Empfindlichkeit des Anfänger-Tyrannen provozieren zu müssen, nachdem die türkische Regierung bereits auf den Erdogan-Song von extra3 mit diplomatischer (also leerer) Drohgebärde reagierte. Mit dieser Satiremaßnahme hat Böhmermann Recht. Meine Meinung ist aber auch, dass es eindeutig schwulenfeindlich erscheint, Erdogan (im negativen Kontext eines ziegenbesteigenden Perverslings) als "schwul" zu bezeichnen.

Im Vergleich diesem sexualisierten Nonsens-Gedicht, macht das Liedchen "Erdowie, Erdowo, Erdogan" durchaus Sinn (auch lyrisch, wenn man Erdogan wie die Preussen "Erdowan" ausspricht): Es erzählt vom tatsächlichen Regierungsstil des Möchtegern-Sultans. Die extra3-Schreiberlinge haben sich darüber informiert und auf dieser Grundlage eine Meinung gebildet. Böhmermann hat lediglich gereimt. Die Unsinnsabsicht ist offensichtlich.

Meinungs-Einbildung abseits des Erdowahn

Aber wenn keine echte "Meinung" vorliegt, wie kann sie dann von der Meinungsfreiheit geschützt werden? Und wie soll ich beweisen, dass die Aneinanderreihung an großtmöglichen Beleidigungen mit gleichen Satzendungen nicht doch "Meinung" ist? Genauso wie bei den "Meinungen" diverser Internettrolle und Hetzerinnen. Natürlich kommt auch diese von irgendeinem kognitiven Prozess. Drängt sich eine bekopftuchte Schülerinnen-Schar zu einem in die U-Bahn, während man noch die "Heute" oder "Österreich" mit dem Titel "Islamisierungsalarm an Schulen" in Händen hält, läuten die Alarmglocken irgendeines prähistorischen Teils des Gehirns. Und irgendeinem halbwachen Moment später, wenn das Unterbewusstsein dominiert, rutscht uns die Hand auf der Maus ab und wir wünschen uns, dass der neue Bundesheiland Ritter Hofer die ganzen Muslime ins Abschiebelager sperrt - eh nur die mit Kopftuch.

Meiungsfreiheit ist Anarchie

Meinung muss man sich bilden. Der (mit)menschliche Meinungsbildungsprozess ist aber oft so intransparent wie die Off-Shore-Geschäfte von Raiffeiszentralbank oder Hypo Vorarlberg. Ich kann nicht wissen, wie viel die Anderen tatsächlich über das nachdenken, was sie sagen oder tun. Das weiß angeblich nur Jesus. Daher besteht die Gefahr, dass jemand nur so tut, als würde er/sie etwas meinen, um in Wirklichkeit nur zu beleidigen. Auch wenn der Empfänger die Beleidigung wahrnimmt, kann der Absender stets behaupten, es wäre einfach nur seine/ihre Meinung, dass grüne Politik - wie Norbert Hofer vermeint - Faschismus wäre. Also müsste ich jede möglicherweise beleidigende weil kritische Äußerung zensieren und sanktionieren. Vorsichtshalber.

Ohne Freiheit keine Meinung

Oder eben keine. Ich kann mir immer einreden: "Das meint der doch nicht im Ernst" und schon ist alles gut. Gegen jede Äußerung, die zu weit geht, gibt es juristische Möglichkeiten (Verletzung des Ehrgefühls, Verhetzung). Die betroffenen Diskussionen können vor Gericht weitergeführt werden. Oder auf Facebook. Zwei Möglichkeiten, die der arme gekränkte Erdogan nicht hat, wenn sich Deutsche über ihn lustig machen. So viel zu seiner Gegenmeinungsfreiheit.

Meinung selbst ist ohnehin nur so frei wie die vorausgegangenen Gedanken. Und selbst Gedanken sind nicht immer frei. Wenn sich jemand in seiner/ihrer Meinungsbildung gänzlich von anderen Personen oder von befremdlichen, unkontrollierten Instinkten und Emotionen beeinflussen lässt - zwar rechtlich, aber nicht real "mündig" ist - spricht er/sie weder die eigene noch eine freie Meinung. Es heißt schließlich MEINung und nicht DEINung, SEINung oder IHRung. Das bewusste Ich ist entscheidend. Das muss aber jede_r für sich selbst erkennen.

Redefreiheit

Daher sollten wir uns von der Meinungsfreiheit nicht täuschen lassen. Nennen wir sie lieber Redefreiheit. In ihr sind auch jene aufgehoben, die ihre "Meinungsfreiheit" ständig bedroht sehen, nur weil andere ihnen erklären wie bescheuert oder menschenverachtend sie ist. Diese "Meinungsfreien" meinen freilich immer nur dann etwas Abscheuliches zu meinen, wenn genug andere das selbe vermeinen. Wären sie mit ihrer "Meinung" allein, bliebe ihre Abscheulichkeit weitgehend verborgen. Gerade die Hetzer_innen suchen Anerkennung. Hetzen macht erst dann Sinn, wenn es von einem ausreichend großen Teil akzeptiert wird. Die Provokation gilt nur den Andersdenkenden, von denen man hofft, dass sie eine schwache Minderheit sind.

Wenn die Abscheulichkeit aber verborgen bleibt, weil sich gewisse Menschen vor Meinungskritik fürchten, kann man nicht darüber reden. Deshalb sollten wir sie einfach reden lassen. Alle. Wir sollten lernen, die grausliche Realität beleidigender Pseudomeinungen zu akzeptieren. Die Satire sowieso. Das heißt nicht, dass man ihre Ursachen akzeptieren muss. Gerade die Satire will, dass wir diese erkennen.

CC/Wikicommons

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fischundfleisch

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Petra vom Frankenwald

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