Es stimmt schon: sowohl das Selbstbestimmungsrecht der (regionalen) Völker als auch das Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten sind Grundprinzipien des Völkerrechts, die allzuoft in einen Widerspruch zueinander kommen: Kosovo, Krim, Katalonien, Nordirak sind zahlreiche dieser Beispielsfälle.

http://derstandard.at/2000065346313/Ein-besserer-Weg-zur-Unabhaengigkeit

Frey schlägt im Standard ein Abspaltungsrecht mit Hürden vor.

Eine international überwachte Abstimmung und eine Beteiligung von mindestens 60 Prozent.

Eines der Probleme mit der internationalen Überwachung könnte sein, dass die Internationalität, bzw. was als Internationalität gelten sollte, strittig ist.

Wenn man die EU als einheitliches Völkerrechtssubjekt betrachten würde und nicht als zahlreiche unabhängige Staaten, dann hätte sie viel weniger Einfluss in internationalen Gremien.

Dadurch, dass die Großmächte (z.B. USA, China, Russland, etc.) als nur ein Staat betrachtet werden, haben sie paradoxerweise wenig Einfluss in vielen internationalen Institutionen, was dazu führt, dass sie internationalen Institutionen wie z.B. der UNO-Vollversammlung vielfach kritisch gegenüberstehen und eine Neigung zum Unilateralismus (also grob vereinfacht gesagt: zum Ignorieren internationaler Institutionen) haben.

Die Frage ist auch, ob die EU sich ähnlich verhalten würde, wenn sie nur ein Staat bzw. nur eine Union mit jeweils nur einem Sitz in internationalen Institutionen wäre.

Eine ähnliche Staatenvielfalt wie die EU hat interessanterweise die OIC (Organisation für islamische Kooperation) mit ca. 60 UNO-Mitgliedsländern und entsprechend vielen Sitzen in UNO-Gremien.

Ein Gegengewicht zu den vielen macht- und bevölkerungsarmen Kleinstaaten stellen die Vetorechte der großen Fünf im UNO-Sicherheitsrat dar.

Nun zu einem anderen Punkt: der Abstimmungsbeteiligung.

Laut Frey sei die Beteiligung am Nordirak-Referendum zu niedrig gewesen. (Zitat: "Es hätte unter regulären Umständen kaum gereicht" ???? Was soll denn das heissen ? Was sind die "regulären Umstände" und was die "irregulären" ?)

Anderen Medienberichten zufolge war sie mit 72% relativ hoch.

Eine Mindestbeteiligung an Referenden liefe auch Gefahr, (mitunter gewaltsame) Unterdrückung zu provozieren.

Eine Zentralregierung könnte dann, um die Abspaltung eines Landesteils zu unterdrücken, mit gewalttätigen oder finanziell-repressiven Maßnahmen die Beteiligung unter die z.B. 60%-Marke drücken.

Nehmen wir einen anderen Fall: Tibet.

Unmittelbar nach der Annexion Tibets durch China hätte eine derartige Volksabstimmung wahrscheinlich eine ausreichende Mehrheit für die Abspaltung von China ergeben. Nach den jahrzehntelangen Übersiedlungen von Han-Chinesen nach Tibet bzw. der entsprechenden Umsiedlungspolitik von seiten des chinesischen Staates würde eine derartige Abstimmung wahrscheinlich keine aufgrund dieser Kriterien ausreichenden Abstimmungsmehrheiten mehr ergeben.

D.h. derartige Mechanismen könnten Vertreibungs- und Übersiedlungspolitiken (um es extrem auszudrücken: ethnische Säuberungen) intensivieren.

Völlig unthematisiert bleiben im Artikel von Frey die Abspaltungsmotive, die sehr unterschiedlich sein können:

Von Unterdrückung bis über Steuerbelastung, ethnische und religiöse Differenzen, schlechten Regierungen, etc. gibt es zahlreiche mögliche Motive für Abspaltungen, denen man mehr oder weniger sympathisch gegenüberstehen kann.

"Wir Schotten wollen Unabhängigkeit, damit wir das Nordseeöl und seine Einnahmen nicht mehr bzw. nicht mehr in so hohem Maße an die Engländer und Waliser abgeben müssen" erscheint mir irgendwie als weniger sympathisches Motiv.

Es können sich auch Zufallsmehrheiten ergeben, die mehr eine Ablehnung der momentanen Regierung signalisieren, als eine prinzipielle Ablehnung des Zentralsstaat, der momentan von der entsprechenden Regierung regiert wird.

Ein weiteres Problem ist die Festlegung des Abstimmungsgebiets, die in vielen Fällen abstimmungsentscheidend sein kann.

Stalin wird die Äußerung zugeschrieben: "Es zählt nicht, was die Bevölkerung abstimmt, es zählt nur, wer die Stimmen auszählt".

In ähnlichem Sinne könnte man sagen: "Es ist egal, was die Menschen wollen. Entscheidend ist nur, wer das Abstimmungsgebiet festlegt."

Diese Abstimmungsgebietsfestlegungsproblematik, die im deutschsprachigen Raum wenig bekannt ist, entspricht der Gerrymandering-Problematik, die hauptsächlich im angelsächsischen Raum wegen des dortigen Mehrheitswahlrechts behandelt wird, z.B. durch die britischen Boundary Commissions, die Wahlkreisgrenzenüberprüfungskommissionen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gerrymandering

https://de.wikipedia.org/wiki/Boundary_Commissions_(Vereinigtes_K%C3%B6nigreich)

Und selbst, wenn das Abstimmungsgebiet festgelegt wird, dann bestehen völlig unterschiedliche Möglichkeiten, wie man damit umgeht:

es gab um 1919/1920/1921 zwei in dieser Hinsicht interessante Abstimmungen: eine in Oberschlesien und eine in Kärnten. Beide gingen mit einem 60:40-Ergebnis aus.

Die Interpretation dieser ähnlichen 60:40-Ergebnisse war in diesen beiden Fällen völlig unterschiedlich:

Oberschlesien wurde aufgrund des 60:40-Abstimmungs-Ergebnisses im Verhältnis 60:40 zwischen Deutschem Reich und Polen geteilt. Die Kärntner Abstimmungszone wurde aufgrund des 60:40-Ergebnisses zu 100% Österreich zugeordnet.

https://de.wikipedia.org/wiki/Oberschlesien

Der Grund ist vielleicht einzig und alleine der, dass aufgrund der Größe das Deutsche Reich von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs (Großbritannien, Frankreich) als Gefahr betrachtet wurde und das aus ihrer Sicht geschwächt werden müsse, hingegen das kleine Österreich nicht.

https://de.wikipedia.org/wiki/Volksabstimmung_1920_in_K%C3%A4rnten

Auch diese beiden Fälle zeigen, dass die Interpretation des Selbstbestimmungsrecht der Völker oft überlagert war durch geopolitische Überlegungen, die mit den abstimmenden Menschen, regionen, etc. praktisch nichts oder nur wenig zu tun hatten.

Die britisch-irische Grenzziehung erfolgte auch aufgrund einer Machtposition Großbritanniens, und nicht gemäß dem Prinzip "Es sollen annähernd gleichviele A-ler in B-Land leben wie B-ler in A-Land".

https://de.wikipedia.org/wiki/Nordirlandkonflikt

Die Spaltung Nordirlands in Katholiken und Protestanten widerspiegelte sich auch im Brexit-Referendum: im mehrheitlich katholischen Westen dominierte die Pro-EU-Meinung, im mehrheitlich protestantischen Osten die Anti-EU-Stimmung.

CC-BY-SA 4.0 / Gemeinfrei / Furfur https://de.wikipedia.org/wiki/Nordirlandkonflikt#/media/File:United_Kingdom_EU_referendum_2016_area_results_(Northern_Ireland).svg

Gelb: Bezirke mit Mehrheiten von irlandnahen, eher katholischen Pro-EU-Votern; Blau: Bezirke mit Mehrheiten von Großbritanniennahen, eher protestantischen Pro-Brexit-Votern.

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