Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat also entschieden: die Bundespräsidenten-Stichwahl muss in ganz Österreich und komplett wiederholt werden. Der Termin dafür ist von der Bundesregierung mit dem Hauptausschuss des Nationalrates festzulegen.

Kaum war die Pressekonferenz des Verfassungsgerichtshofs beendet, schon gingen die social media über mit den diversen Einschätzungen zu diesem Spruch: sind die einen überzeugt, dass damit nun der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen wurde, werden von anderen Durchhalteparolen ausgegeben; ein überschreckend überwiegender Teil der Statusmeldungen drückt allerdings Unwillen aus: „Nicht schon wieder“ erinnern sich viele an die polarisierenden Wochen vor den letzten beiden Wahldurchgängen.

Was genau hat eigentlich die 14 Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter dazu veranlasst, zu diesem Ergebnis zu kommen? Wurden tatsächlich mehr als 30.863 Stimmen – so knapp war der Unterschied zwischen den beiden Kandidaten nach Auszählung der zur Wahl am 22. Mai 2016 abgegeben Stimmen – manipuliert, verfälscht oder zu Lasten des unterlegenen Kandidaten unterschlagen? Wurde tatsächlich die Entscheidung des einzigen Souveräns in einer Demokratie – nämlich der Wählerinnen und Wähler – anders abgebildet, als sie tatsächlich gefallen ist?

Wenn man die wesentlichen Entscheidungsgründe des heutigen Erkenntnisses näher betrachtet, dann kann man zum Schluss kommen, dass die Lage nicht ganz so verheerend ist, wie sie jetzt wohl beschrieben werden wird mit viel Getöse des Blätterwalds der internationalen Medien: nein, Österreich als ein Land, welches Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter in andere Staaten dieser Erde entsendet, um für die ordnungsgemäße Abwicklung von Wahlen zu sorgen, hat keinesfalls ab dem heutigen Datum den Status eines Nachhilfe benötigenden demokratischen Entwicklungslandes. Vielmehr scheinen einige durchwegs gut gemeinte effizienzsteigernde Auslegungen des Gesetzes in den Augen der Verfassungshüterinnen und -hüter übers Ziel geschossen zu sein:

Rechtswidrigkeiten bei der Durchführung der Briefwahl

Tätigkeiten, die mit der Auszählung der Stimmen in unmittelbarem Zusammenhang stehen, müssen von der Wahlbehörde als Kollegium durchgeführt werden. Es reicht dabei also nicht aus, dass auf die Möglichkeit hingewiesen wird, dass alle Beisitzerinnen und Beisitzer dabei sein können. Ein gut gemeintes „Ihr könnt gerne auf einen Kaffee gehen, ich mach einmal die Stapeln zum Zählen“ eines Wahlleiters oder einer Wahlleiterin oder ein von der Nikotinsucht getriebenes „Bereite Du mal alles vor, bis wir zum Zählen anfangen können rauch ich mal eine“ widerspricht dem Wortlaut des Gesetzes. Eines Gesetzes, das die Transparenz bei der Ermittlung des Wahlergebnisses sicherstellen soll. Auch Hilfsorgane, welche zur Unterstützung für scheinbar nebensächliche Aufgaben wie dem Öffnen von Wahlkarten herangezogen werden, dürfen nur unter den Augen des Kollegiums tätig werden. Sie dürfen keinesfalls mit der unkontrollierten Überprüfung der Stimmen befasst werden – selbst wenn ihnen genau erklärt wurde, worauf zu achten ist und dass dann das Kollegium die Prüfung vornehmen wird.

Ohne Beisitzer und mit Hilfsorganen dürfen lediglich vorgelagerte Tätigkeiten erledigt werden. Dazu zählt das Vorsortieren der Wahlkarten in miteinzubeziehende und nichtige Wahlkarten anhand evidenter Nichtigkeitsgründe (zum Beispiel: das Fehlen der Unterschrift).

Briefwahl weiter verfassungskonform

Erstaunlich deutlich hat der Verfassungsgerichtshof klargestellt, dass die Briefwahl als solche weiter bestehen darf und mit dem demokratischen Prinzip vereinbar ist. Weggewischt werden dabei Bedenken, welche selbst bei so simplen Handlungen wie einer Blutspende doch Ernst genommen werden: der Gruppenzwang. Wer einer Risikogruppe angehört und daher vom Blutspenden ausgeschlossen ist, soll etwa die Möglichkeit haben, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen, der Familie oder auch dem Freundeskreis dennoch zur Blutspende zu gehen, um nicht aufzufallen. Ein simples und für die anderen nicht leicht beobachtetes Kreuz auf dem Fragebogen mit unzähligen bekanntzugebenen Informationen bei „Nein“ im Zusammenhang mit der Frage, ob das Blut auch verwendet werden kann, stellt sicher, dass einerseits kein Schaden entstehen kann, andererseits aber die Diskretion bewahrt wird. Anders bei der Briefwahl, wo rasch einmal im Familienverband abverlangt wird, den Stimmzettel doch gemeinsam am Küchentisch auszufüllen. Oder noch schlimmer … „Du wirst doch nichts zu verheimlichen haben, oder?“ Und auf facebook posten doch auch alle ihren ausgefüllten Stimmzettel … Da bestehen für die Verfassungshüterinnen und -hüter keine Bedenken.

Unerheblichkeit, ob Manipulation tatsächlich stattgefunden hat

Der Verfassungsgerichtshof hat in der Begründung der Anordnung zur bundesweiten Wiederholung der Stichwahl sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass es für seine Entscheidung unerheblich war, ob es tatsächlich zu Manipulationen gekommen ist. Schlicht die strikte Anwendung der Gesetze ist Maßstab – und sei die Abweichung noch so gut begründet und keinesfalls mit dem Hintergedanken der Verfälschung des Wahlergebnisses erfolgt. Gleichgültig. Genauso gleichgültig übrigens, wie der Druck, dem sich manche Menschen aussetzen, wenn sie außerhalb einer Wahlzelle ihre Stimme abgeben.

Weshalb eine bundesweite Wahlwiederholung?

In den Bezirken Innsbruck-Land, Südoststeiermark, Stadt Villach, Villach-Land, Schwaz, Wien-Umgebung, Hermagor, Wolfsberg, Freistadt, Bregenz, Kufstein, GrazUmgebung, Leibnitz, Reutte wurden, wie der Verfassungsgerichtshof in den von der reinen Aktenlage abweichenden Ergebnissen der Ermittlungen festgestellt hat, Regeln für die Durchführung der Briefwahl nicht eingehalten. Die Rechtswidrigkeiten betreffen insgesamt 77.926 Briefwahlstimmen. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass Wahlkartenwählerinnen und -wähler dieser Bezirke ihre Stimme in einem Wahllokal eines anderen Bezirkes abgaben, würde die auf diese Bezirke eingeschränkte Wiederholung zum Ergebnis führen, dass diese Personen im Ergebnis dann doppeltes Stimmrecht hätten: bei der Wahl am 22. Mai 2016 in dem Bezirk, in welchem sie ihre Stimme abgegeben haben und dessen Ergebnis nicht aufgehoben wurde, und bei der Wiederholung dann erneut. Um diese Konstellation auszuschließen wurde also die bundesweite Wiederholung angeordnet.

Nun denn: der Startschuss in eine neuerliche Auseinandersetzung mit den bekannten Standpunkten ist getan. Wird sich am Ergebnis viel ändern? Und: wird das Vereinigte Königreich Anleihe an diesem Erkenntnis aus Wien nehmen und die Abstimmung über den „Brexit“ auch wiederholen mit ähnlichen Argumenten?

4
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Paradeisa

Paradeisa bewertete diesen Eintrag 11.07.2016 06:49:48

FraMoS

FraMoS bewertete diesen Eintrag 03.07.2016 20:09:53

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 01.07.2016 22:43:29

liberty

liberty bewertete diesen Eintrag 01.07.2016 17:00:29

1 Kommentare

Mehr von Hansjuergen Gaugl