Klimaschutz: Die dunklen Schatten des „grünen“ Wasserstoffs

Dagmar Jestrzemski (Red. PAZ)*

In vielen Teile der Welt sucht die Bundesregierung nach Partnern für ihre Energiewende. Doch an immer mehr Orten wächst der Widerstand gegen ökologisch und wirtschaftlich zweifelhafte Mammutprojekte

Deutschland und die meisten übrigen EU-Länder sowie Norwegen haben sich für eine Wasserstoffwirtschaft als wichtigen Baustein auf ihrem nationalen Pfad der Transformation zu einer sogenannten klimaneutralen Energieversorgung entschieden. Jedoch hat sich kein Land außer Deutschland für den problembehafteten, teuersten und für eine Anwendung in größerem Umfang noch unerprobten Energieträger Wasserstoff als Kernelement seines zukünftigen Energiesystems entschieden. Mit Unmengen an Wasserstoff-Importen aus Ländern überwiegend im globalen Süden will Deutschland seine Energiewende fortsetzen. Projekte zur Herstellung in Lateinamerika, dem arabischen Raum und Afrika laufen auf Hochtouren.

Zugleich wird der Aufbau einer inländischen Wasserstoff-Wirtschaft vorangetrieben. Zwar hält eine neue Analyse der EU-Kommission die Elektrolyse von Wasserstoff in Deutschland auch langfristig für unwirtschaftlich. Dennoch sehen Experten des Fraunhofer-Instituts, des Reiner Lemoine Instituts und des Dienstleisters Infracon Infrastruktur Service künftige „Kraftzentren“ für die Produktion von „regenerativ“ erzeugtem Wasserstoff in der Uckermark und der Lausitz. Woher soll aber das für die Elektrolyse benötigte hochreine Wasser kommen? Immer mehr Regionen in Deutschland leiden seit etwa 17 Jahren, wohl nicht zufällig parallel zum fortgesetzten Ausbau der Windenergie, zunehmend unter Wasserknappheit.

Doch dafür haben die Experten eine Lösungsidee: Abwasser, das bei der Aufbereitung von Hüttengasen bei der Stahlproduktion zurückbleibt. In der Uckermark könne es ausreichend Wasser für die Wasserstoff-Industrie geben, wenn die PCK-Raffinerie in Schwedt kein Benzin und keinen Diesel mehr herstelle. Dann werde Wasser frei für die Produktion von Wasserstoff. Jedoch: „In den Plänen des Landes Brandenburg tauchen Schätzungen zum höheren Wasserbedarf nicht auf. Scheut sich die Politik, diese Rechnung aufzumachen?“, fragten Autoren des „Freitag“ im März 2023.

Die Sorgen im Kanzleramt und im Wirtschaftsministerium wegen möglicher Notlagen bei der Energieversorgung müssen groß sein. So erklärt sich, dass Bedenken hinsichtlich sicherheitspolitischer Risiken und Menschenrechtsverletzungen in den kooperationswilligen Ländern nicht öffentlich angesprochen werden. Deutschland sagte bisher für den Aufbau einer „grünen“ Wasserstoffwirtschaft und geeigneter Hafenanlagen für den Wasserstoff-Export Milliardeninvestitionen für Mexiko, Uruguay, Kanada, Namibia und Südafrika zu. Weitere Wasserstoff-Partnerschaften wurden innerhalb von kaum zwei Jahren mit Australien, Chile, Angola, Ägypten, Marokko, Mauretanien, Niger und Saudi-Arabien eingeleitet. Bundeskanzler Olaf Scholz will auch Nigeria in die bunte Palette von bereits mehr als einem Dutzend Wunschlieferanten des „grünen“ Wasserstoffs aufnehmen.

Zu Deutschlands Kooperationspartnern zählt das autokratische Regime von Saudi-Arabien. Das Land will weltgrößter Hersteller von „grünem“ Wasserstoff werden. Die Pläne stehen im Zusammenhang mit dem umstrittenen Bau der Megacity „Neom“ im Nordwesten der saudi-arabischen Wüste, gelegen inmitten einer „Wirtschaftszone“ gleichen Namens am Golf von Akaba und am Roten Meer.

Dort soll der Wind- und Solarstrom für die auch „The Line“ genannte Planstadt auf schätzungsweise 30.000 Quadratkilometern erzeugt werden. Der Entwurf zeigt ein schnurgerades, 170 Kilometer langes Bauwerk aus Wolkenkratzern mit verspiegelten Fenstern. 500 Meter hoch und 200 Meter breit, soll die futuristische Wüstenstadt bis zur Fertigstellung 2045 Wohnraum für neun Millionen Menschen bieten.

Unter dem Titel „Auf saudischem Blut aufgebaut“ berichtete die „Tagesschau“ im vergangenen November über die Vertreibung und zwangsweise Umsiedlung von mindestens 28.000 Beduinen aus drei Dörfern, um Platz für die Stadt der Zukunft zu schaffen. Bereits vor mehr als einem Jahr hatte die „taz“ über die Vertreibung, Verfolgung und Schikanierung von 150 Einwohnern seit 2020 berichtet, die teilweise gewaltsam aus ihren Häusern geholt und 200 Kilometer weit ins Inland deportiert wurden.

Mindestens fünf Männer, die sich geweigert hatten, ihre Häuser zu verlassen, sollen angegriffen und getötet oder zum Tode verurteilt und hingerichtet worden sein. In 50 Fällen sollen lange Haftstrafen verhängt worden sein. Menschenrechtsgruppen hatten von den Beratungsunternehmen für „Neom“ gefordert, die Zusammenarbeit auszusetzen.

Der Hafenort Maqna am Golf von Akaba ist Ausgangspunkt von „The Line“. Nachdem die Einwohner deportiert waren, begann hier der Bau des derzeit weltgrößten Zentrums für „grünen“ Wasserstoff namens „Helios“. Deutschland hat das Projekt mit einer Hermes-Bürgschaft in unbekannter Höhe abgesichert und fördert die Begleitforschung.

„Ökologisch verheerend“

Gebaut wird die Mega-Anlage von der deutschen ThyssenKrupp-Tochter Nucera gemeinsam mit Air Products aus den USA, einem Hersteller von Industriegasen. Nucera hat seither seinen Umsatz vervielfacht und erzielte beim Börsengang im Juli dieses Jahres 500 Millionen Euro. Im September stieg das Unternehmen in den S-DAX auf. Der Wind- und Solar-Strom für die Anlagen zur Meerwasserentsalzung und für die Produktion von Wasserstoff und Ammoniak kommt aus der „Wirtschaftszone“. Die Bundesregierung will ihre Beteiligung an dem Projekt trotz der schweren Menschenrechtsverletzungen nicht aufgeben. „Die Wasserstoff-Kooperation, die dort stattfindet, ist ökologisch wie menschenrechtlich verheerend“, sagt dagegen Franziska Müller, Juniorprofessorin für Klimapolitik an der Universität Hamburg: „Der grüne Wasserstoff wird, um es plakativ auszudrücken, mit Blut bespritzt.“ Die Bundesregierung solle sich daraus zurückziehen.

Scharfe Kritik in Namibia

Der Wasserstoff-Experte Tobias Heindl ist laut dem TV-Magazin „Fakt“ aus dem Projekt „Helios“ ausgestiegen. Er ist jetzt Mitarbeiter bei dem deutsch-namibischen Wasserstoffprojekt „Hyphen Hydrogen Energy“, einem Joint Venture des brandenburgischen Energieunternehmens Enertrag und der britischen Nicholas Holdings (die PAZ berichtete). Die Wasserstoff-Fabrik einschließlich gigantischer Windparks und Photovoltaikanlagen soll am Hafen der Kleinstadt Lüderitz und südlich davon im Tsau/Khaeb-Nationalpark der Namib-Wüste auf rund 2000 Quadratkilometern realisiert werden. Wasserstoff, der im Inland für die Stromerzeugung nicht gebraucht wird, soll laut Plan nach Deutschland und Europa exportiert werden.

Doch in Namibia gibt es eine aufmerksame Zivilgesellschaft. Deren Vertreter äußerten jüngst über das Medienportal „africanarguments.org“ scharfe Kritik an der geplanten Natur- und Umweltzerstörung für die Erzeugung des als „grün“ deklarierten Wasserstoffs im Schutzgebiet Tsau/Khaeb. „Wir werden in einem gemeinschaftlichen Aufruf an den Präsidenten die Veröffentlichung aller Einzelheiten der im März unterzeichneten Vereinbarung der Regierung (mit Hyphen) einfordern. Geheimniskrämerei öffnet Türen und Tore für Korruption“, erklärte der Bürgerrechtler Graham Hopwood, Direktor des Institute of Public Policy Research (IPPR) während einer Diskussion in Windhoek über das Vorhaben Anfang November vergangenen Jahres.

Der Biologe Jean-Paul Roux äußerte bei dem Gespräch in der namibischen Hauptstadt große Sorge: „Die Halbinsel Lüderitz grenzt im Süden an Angra Point, ein einzigartiges Ökosystem im südlichen Afrika. Der Tsau/Khaeb-Nationalpark ist einer der großen Biodiversitäts-Hotspots im südlichen Afrika. In der trockenen Sommersaison sieht die Landschaft öde und leblos aus. Der Winterregen bringt jedoch eine Explosion seltener Pflanzen hervor, manche davon bis zu 90 Jahre alt und endemisch. Man findet hier 1000 verschiedene Pflanzenarten auf einem einzigen Quadratkilometer.“

Viele der Anwesenden bei der Windhoeker Diskussionsrunde beschäftigte die Frage: „Wer profitiert eigentlich von der unvermeidbaren Zerstörung eines einzigartigen Ökosystems und der Lebensart einer Kleinstadt wie Lüderitz?“ Aus Lateinamerika kommt aus akademischen Kreisen ebenfalls vernichtende Kritik an den Projekten für angeblich „nachhaltig“ erzeugten Wasserstoff, die westliche Länder mit großen Geldversprechen in den globalen Süden auslagern wollen.

„Vermeintlich nachhaltig“

In seiner Untersuchung „Sieben kritische Punkte des grünen Wasserstoffs“ schreibt der Soziologe Daniel Pena von der „Koordinierungsgruppe für das Wasser“ in Uruguay: „Sie bezeichnen sich selbst als ,grün‘ und betonen damit den ,nachhaltigen‘ oder ,ökologischen‘ Charakter der neuen Energiewelle. Eine sinnvolle, tiefgreifende und wissenschaftliche Umweltanalyse dieser vermeintlich nachhaltigen Alternativen muss aber den gesamten ‚Produktlebenszyklus‘ berücksichtigen. Auch seine Risiken und Nachteile – und nicht nur die Möglichkeit, ein Endprodukt ohne CO₂-Gehalt herzustellen.“ Pena bringt die ausgeblendeten Aspekte auf den Punkt: „Elektrolysetechniken sind das Herzstück der ,grünen‘ Wasserstoffindustrie. Diese Geräte ermöglichen die Aufspaltung des Wassermoleküls durch elektrischen Strom in Wasserstoff- und Sauerstoff-Moleküle. Allerdings verwenden Elektrolyseanlagen mit ihren Elektroden diverse Mineralien wie Stahl und Nickel, deren Gewinnung ebenfalls mit sehr hohen Umweltschäden und sozialen Problemen verbunden ist. Die Metalle kommen vor allem in Russland, Indien, den Philippinen und Australien vor. Sogenannte PEM-Elektrolyseanlagen nutzen für die Aufspaltung des Wassers Platin und Iridium an den Elektroden, neben den Polymerelektrolytmembranen (PEM). Russland ist mit einem Anteil von 13 Prozent am Gesamtangebot der zweitgrößte Platinlieferant für Europa und die Welt, nach dem weltweit größten Lieferanten Südafrika.“

Sorge ums seltene Balsaholz

Aus diesen Fakten zieht der uruguayische Soziologe den Schluss: „Jeder mag sich selbst vorstellen, wie eine Gegend aussieht, die komplett flächendeckend mit Windrädern und Solarpaneelen in eine Industriebrache umgewandelt wird und welche Auswirkungen die Installationen auf die Natur und die klimatischen Verhältnisse dieser Regionen hätten. Es ist auch mehr als fraglich, ob andere Länder ihre Landschaften derartig verschandeln werden, um für die deutsche Energiewende ,grünen‘ Wasserstoff zu produzieren. Von den Kosten gar nicht zu reden. Ein Innenteil der Rotorblätter der Windkraftwerke wird aus dem besonders leichten Balsaholz gefertigt, dessen Weltvorkommen zu 75 Prozent im Nationalpark Yasuní in Ecuador beheimatet sind. Wo bleiben die Rechte der Zivilgesellschaft und deren Entscheidungsbefugnis über die Platzierung dieser ,grünen‘ Industrieanlagen in ihren unmittelbaren Lebensbereichen ?“

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