Vorgestern Abend in der Regionalbahn von Stralsund nach Berlin: eine Sitzgruppe vor mir und durch mich nicht einseh- aber gut hörbar, zwei Männer, von denen ich zuerst annehme, sie gehören zusammen. Einer von beiden spricht laut und offensichtlich stark alkoholisiert. Eine wüste Tirade gegen „die Weiber“. Wollen alle nur Geld. Schl****. Und Schlimmeres. Nach einer Weile steht aus einem anderen Abteil eine Frau auf und ruft den jungen Mann zur Ordnung, allgemeine Zustimmung im Waggon, der zweite Mann, den ich für den Mitreisenden des Pöblers hielt, setzt sich von ihm weg. Der ist jetzt allein in seiner Sitzgruppe, Doppelstock-Waggon, oben – und geht nahtlos zu langanhaltendem, sich steigerndem Schluchzen und Weinen über. Die Frau, die ihn ermahnt hatte, reicht ihm ein Taschentuch. Er bedankt sich. Wenig später lässt er – im Suffduktus vor sich hin salbadernd – alle im Wagen an seinem Elend teilhaben. Er fahre jetzt zu seinem Sohn! Der hätte morgen Geburtstag, zwei Jahre alt. Und er hat ihn noch nie gesehen! Egal, ob „die Alte“ ihn lasse oder nicht, morgen will er ihn sehen. Sie hätte einfach die besseren Anwälte gehabt damals (drei Stück!), seine Anwältin dagegen hätte nichts bewegt gekriegt – aber kassiert: 1.400 Euro! Der Arzt hätte ihm dann geraten, da wegzuziehen, weil er Belastungsstörungen hat. Alles lallend und unter Tränen. Bevor sich zu viel Mitleid einstellen kann, wechselt er ansatzlos in den Pöbelmodus zurück. Und die Umsitzenden sollten ja nicht über ihn lachen. Er hätte Kontakte! Dann zückt er sein Telefon. Jetzt rufe er die Maria an! Ha! Dreimal von Funklöchern unterbrochen entspinnt sich nun ein abstruser Dialog, in dem er besagte Maria ins Handy schreiend erstmal daran erinnern muss, dass er doch dieser Freund vom Walter wäre, der sein Kind noch nie gesehen hat, sie würde sich doch bestimmt erinnern. Und er würde jetzt „da runterfahren“ um sein Kind zu sehen, und wenn „die Alte“ ihn zu hindern versuchen würde, dann würde er ihr „eine in die Fresse hauen“. Es sei denn, sie, die Maria, hätte eine bessere Idee. Sie könne doch da bestimmt was machen, dass er sein Kind wiedersehen kann. Sie wäre doch bei der AfD! Und da war der Kreis von Incel-Elend und emotionaler Verlandung und den sogar durchs entfernte fremde Telefon hindurch spürbaren Rattenfängern geschlossen. Mir fiel dann vorm Aussteigen in Gesundbrunnen nur noch der AfD-Spitzenkandidat zur Europawahl, Maximilian Krah, ein, der auf youtube ernsthaft den jungen Männern seiner Wählerschaft, die noch nie eine Freundin hatten, empfahl, wenn es mit den Frauen klappen soll, dann dürften sie sich „auf keinen Fall einreden lassen, sie sollten soft, lieb und links sein.“ Echte Männer wären rechts! Und Patrioten! „Dann klappts auch mit der Freundin.“ Ich weiß noch, wie ich darüber beim ersten Sehen vor einem Monat mit leicht ungläubigem Ekel fast gelacht hätte. Jetzt im Zug, angesichts der von Leuten wie Krah mit solchen Statements adressierten Realität, der ganzen Wucht des sich da offenbarenden und wuchernden menschlichen Leids, war jegliches Lachen weit entfernt. Die AfD ist eine Partei, die die Not der Menschen nährt und nutzt. Bewirtschafter des Elends. Eine Partei der Dummheit, die sich nicht mehr schämt. Der Verrohung, die sich nicht mehr schämt. Der Bigotterie, die sich nicht mehr schämt. Und der Brutalität – die sich nicht mehr schämt.

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