Russland "böse", der Westen "gut"? Jawohl, genau so ist es!

Seit dem 24.02.2022 ist Putin dabei, mit seiner haushoch überlegenen russischen Armee einen relativen Zwerg-Nachbarstaat (hier neongelb) plattzumachen:

https://www.stepmap.de/karte/russland-karte-iP41TnTpLI

Sogar die bisher stets rußland- und Putinfreundliche AfD hat erkannt, was da los ist:

0:09 min: "Rußlands Angriffskrieg auf ein Nachbarland"

0:22 min: "russischer Völkerrechtsbruch"

1:55 min: "... überheblich Rußland den Großmachstatus abgesprochen hat. Das ist das historische Versagen des Westens: Die Kränkung Rußlands. Es ändert nichts an der Verwerflichkeit des russischen Einmarschs..." Ende der Zitate.

Zur gekränkten Großmacht komme ich nochmal weiter unten.

Es gehört zur Meinungsfreiheit, wenn z.B. hier (und in einem FuF-Blog, der das Ganze nur kopiert) zu lesen ist: "Von wem stammt der Vorschlag, ein »Haus Europa« aufzubauen, samt der dazugehörigen Öffnung der Sowjetunion bis hin zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands? Von Michail Gorbatschow, 1989. Und hat Gorbatschow nicht die Zusage erhalten, dass die Nato nicht über die deutschen Grenzen nach Osten erweitert würde, wie soeben noch einmal im Spiegel durch Dokumente belegt wurde?" Zitat Ende.

Ja, im Zuge der deutschen Wiedervereinigung gab es wohl eine mündliche Zusage. Aber es gibt auch die schriftliche KSZE-Schlußakte von 1975, die sowohl von der UdSSR beschlossen wurde, als auch von Rußland gegenüber der NATO am 27. Mai 1997 anerkannt wurde.

Die Ukraine trat der KSZE schon am 30. Januar 1992 gleichzeitig mit Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan bei.

In der KSZE-Schlußakte heißt es anderem

I. (Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte) ... Im Rahmen des Völkerrechts haben alle Teilnehmerstaaten gleiche Rechte und Pflichten....Sie haben ebenfalls das Recht, ... einschließlich des Rechtes, Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein; desgleichen haben sie das Recht auf Neutralität. Zitat Ende.

Wenn Rußland als größter Nachfolgestaat der UdSSR in 1997 die KSZE-Schlußakte ohne jegliche Einschränkungen hinsichtlich der Bündnisfreiheit anerkannte, ergibt sich daraus konkludent, daß man eine ca. 7 Jahre ältere mündliche Zusage der Nicht-Erweiterung der NATO als überholt betrachtete.

Da die NATO-Osterweiterung erst in 1999 begann (d.h. ~ 2 Jahre nach Rußland's Anerkennung der KSZE-Schlußakte), geht also jede künstliche Aufregung über einen angeblichen Verstoß der NATO gegen die Nicht-Erweiterungs-Zusage ins Leere.

Wundert es jemanden, daß sich weder in dem verlinkten Ossietzky-Artikel, noch in einem weiteren Rechtfertigungsversuch für Putins Ukrainekrieg irgendein Wort über die KSZE-Schlußakte findet?

Zudem hat Rußland schon seit 2004 eine insgesamt 656 km lange Land- und Binnenseegrenze direkt zur NATO (nämlich Estland und Lettland): Dichter kann die NATO doch wohl Rußland gar nicht auf die Pelle rücken?

Was von dem russischen Vorschlag eines "Hauses Europa" zu halten wäre, davon vermittelt ein Blick in ein internationales Rechtsstaatlichkeits-Ranking eine vage Vorstellung. Es umfaßt aktuell 139 Länder, die anhand von 44 Einzelkriterien und einer daraus berechneten Gesamtbewertung von 0 (= keinerlei Rechtskultur) bis 1 (= voll entwickelte Rechtskultur) zeigt, welchen Stellenwert Recht und Gesetz in dem jeweiligen Land haben. So liefert der WJP-Index Daten zu der Frage, wie fair oder unfair ein Staat seine Bürger im Innenverhältnis behandelt.

Filtert man aus dem Ranking die NATO-Staaten (außer Island und Montenegro, da nicht untersucht), Rußland und die Ukraine heraus, dann sieht das Ergebnis so aus:

eigene Auswertungen

Putins Rußland und sein Marionettenregime in Weißrußland liegen nur 4 Plätze auseinander (97 bzw. 101 von 139). Innerhalb der NATO hat nur die Türkei ein noch schlechteres Ranking (117).

Wer sich fragt, wie die Türkei überhaupt in die NATO kommen konnte, der findet hier die Antwort. 1952 hätte die Türkei im WJP-Index sicher eine höhere Bewertung bekommen, aber den WJP-Index gibt es erst seit 2008, die erste Ausgabe mit einem Globalen Gesamtranking erschien 2014:

https://worldjusticeproject.org/sites/default/files/documents/RuleofLawIndex2014.pdf

Platz 59 von 99 für die Türkei entspräche im 2021er Ranking Platz 83 von 139, also dem Level des 2009er NATO-Mitglieds Albanien - und damit deutlich über Rußland. Allerdings ist die Türkei innerhalb von 7 Jahren unter Präsident Erdogan um 34 Plätze auf 117 von 139 abgestürzt.

Schauen wir uns nun im Vergleich Auszüge der Detailbewertungen von Rußland und der NATO-Führungsmacht USA (Seiten 144 und 171 hier) mit den jeweils schlechtesten Details an:

https://https://worldjusticeproject.org/sites/default/files/documents/WJP-INDEX-21.pdf

Beide Minimalbewertungen betreffen "Criminal Justice" = die Strafjustiz.

In der Russischen Föderation ist das Merkmal "No improper government influence" mit 0,11 von 1 nur sehr schwach ausgeprägt. Heißt im Klartext: Die russische Strafjustiz verhängt größtenteils Urteile nach Vorgabe der Regierung - das ist ein typisches Merkmal von Willkür-Regimen.

In den USA ist das Merkmal "No discriminnation" mit 0,31 von 1 am schwächsten ausgeprägt, aber immer noch fast 3-mal so gut wie der schlimmste russische Schwachpunkt. Dort ist die Diskriminierung mit 0,35 kaum geringer als in den USA.

Insgesamt zeigt der Vergleich der lila Flächen, um wieviel mehr Bedeutung Recht und Gesetz in den USA im Vergleich zur Russischen Föderation haben.

Untermauert wird das Ergebnis z.B. durch Putin's Umgang mit Systemkritikern, dem Klartext-Verbot rund um seinen aktuellen Ukraine-Überfall, und die zahllosen Verhaftungen von Friedensdemonstranten. Ich bin gespannt, wie weit die beiden letzteren Punkte das russische 2022er WJP-Ranking nach unten ziehen werden.

Aber schon im 2021er Bericht zeigen die Rankings der "alten westlichen NATO-Staaten" einschl. der Türkei(!) mit einem 0,75er Durchschnitt und Rußland mit 0,46, daß es dazwischen einen weiten Bereich gibt, um bei der Frage der Fairness eines Staates gegenüber seinen Einwohnern eine klare Grenze zwischen "gut" und "böse" im Sinne des Blogtitels zu ziehen.

Anders ausgedrückt: In puncto "Recht und Gesetz im Inneren" ist die flächen- und bevölkerungsmäßige Großmacht Rußland unter Putin gegenüber "dem Westen" (im Gegensatz zu Weidel's o.g. Zitat) nach wie vor nur ein ziemlich kleines Licht, das ich definitiv nicht in einem »Haus Europa« haben wollte.

Dazu kommt, daß Putin jetzt ohne jeden objektiven Grund ein militärisch weit unterlegenes Nachbarland zerbomben läßt, dabei den Tod Abertausender Menschen in Kauf nimmt und eine riesige Flüchtlingswelle zu verantworten hat.

Was muß man also geraucht haben, um Putin immer noch sinngemäß als vom Westen gereizten oder historisch traumatisierten Bub hinzustellen, der gar nicht anders kann, als in der Ukraine seinen Frust abzureagieren???

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