Verlorene Töchter. Ein Blick ins Leben junger Migrantinnen.

Die drei folgenden Geschichten handeln von verlorenen Töchtern. Ich könnte andere, dramatischere Geschichten von Mädchen und jungen Frauen aus der Türkei, aus Pakistan und Syrien erzählen. Aber gerade diese drei Frauen hatten mich so sehr hoffen lassen, dass unsere Lebensweise die Kraft hat, ihnen den Weg zu einem selbstbestimmten, guten Leben zu weisen.

1. Esin

Esin kenne ich seit 15 Jahren. Sie kam im Vorschulalter mit den Eltern aus Anatolien nach Österreich. Als ich sie kennenlernte, hielt sie sich mit ihren beiden Kleinkindern im Frauenhaus auf und hatte die Scheidung gegen den gewalttätigen Ehemann eingereicht.

Esin nahm jede Beratungsmöglichkeit in Anspruch, die der österreichische Staat und seine Institutionen bereithalten. Sie hatte genug Kraft, sich gegen die Wünsche ihrer Eltern zu stemmen (die ihre Rückkehr zum Ehemann forderten) und begann nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im Frauenhaus in einer eigenen kleinen Wohnung ein neues Leben mit den Kindern. Sie fand einen Job und mit Zähigkeit und Entschlossenheit gelang es ihr, für sich und die Kinder zu sorgen.

Ich traf sie immer wieder auf der Straße, wenn sie die Kinder von der Schule abholte, und wir wechselten einige freundliche Worte. Sie machte auf mich einen zufriedenen Eindruck, war westlich gekleidet und hatte das eine oder andere Mal während des Gehens eine Zigarette in der Hand.

Vor einem halben Jahr erreichte mich die Nachricht, Esin trüge nun Niqab – ebenso wie ihre Tochter, jenes Kind, das in Österreich geboren wurde, hier die gesamte Schullaufbahn durchlaufen hat und mit dem die Mutter vor 15 Jahren ins Frauenhaus geflohen war. Offenbar haben Mutter und Tochter die Vollverschleierung nach einem Auslandsaufenthalt angenommen.

2. Semra

Der Friseur, den ich – notgedrungen – von Zeit zu Zeit aufsuche, beschäftigte zwei türkische Lehrlinge. Die eine, klein, mollig und sehr liebenswürdig, war im zweiten Lehrjahr und durfte Haare waschen und – mit Einverständnis der Kundin – auch föhnen. Semra fasste rasch Vertrauen zu mir – wahrscheinlich, weil ich echtes Interesse an ihrem Leben zeigte. Ihre leise vorgetragenen Geschichten waren herzzerreißend. „Der Papa ist streng!“ lautete der Refrain, z.B., wenn sie erzählte, dass sie nicht mit den Kolleginnen auf die Weihnachtsfeier dürfe. Für mich war es eine ziemlich herausfordernde Übung, einfach zuzuhören und meine Emotionen beiseite zu lassen.

Einmal kam sie, nachdem ich bei der Chefin bezahlt hatte, aus dem Friseurladen gelaufen. Ob ich ihr einen Rat geben könne? Ihre Freundin würde vom Ehemann misshandelt und sie habe so große Angst um sie. Ich nannte ihr mehrere Stellen, an die die Frau sich wenden könne. Nein, nein, schüttelte Semra traurig den Kopf. Dort war sie schon, aber sie habe unabhängig vom Mann keine Aufenthaltsgenehmigung, und eine Rückkehr in die Heimat alleine als Frau sei undenkbar.

Vor drei Monaten war Semra nicht mehr da. Auf meine Nachfrage hieß es, sie habe in der Türkei geheiratet.

3. Nilgün

Nilgün ist schon im dritten Lehrjahr. Manchmal muss ich zweimal schauen, ob sie es tatsächlich ist, denn sie ändert Haarfarbe und Frisuren sehr kreativ und radikal.

Die junge Frau gestattete mir tiefe Einblicke in ihr Leben. Sie erzählte mir vom Druck, den männliche „Peers“, also gleichaltrige männliche Jugendliche auf sie ausübten, das Kopftuch zu tragen. Dabei lachte sie: „Des moch’ i nie! Do kann i ja glei mein’ Beruf schmeißen!“ Natürlich bestärkte ich sie in ihrer Ansicht.

Ich gestehe, dass ich öfters mal zwischendurch zum Friseur ging, weil ich wissen wollte, wie diese oder jene Geschichte sich entwickelt hatte und mich jedesmal auf die Stunde mit der selbstbewussten, humorvollen Nilgün freute.

Sie war die erste, die mir ernsthaft dazu riet, nicht ohne Pfefferspray unterwegs zu sein. Sie selbst hatte ihn schon erfolgreich zur Anwendung gebracht – in Kombination mit ihrem Hund, der sie in den Abendstunden stets begleitete.

Mein Erstaunen, dass sie - im Unterschied zu Semra - abends weggehen durfte, quittierte sie mit Gelächter. Die Mama vertraue ihr, und sie sei immer mit Freundinnen unterwegs. Aha, schloss ich messerscharf, es gibt offenbar keine Brüder. „Naa!“ antwortete sie mit breitem Grinsen, „Is eh besser!“

Vor zwei Wochen war Nilgün völlig durch den Wind. Sie müsse in die Türkei, die Tickets seien schon gebucht. „Auf Urlaub?“ fragte ich vorsichtig, wissend, dass sie mit ihrer Mutter erst im Jänner zwei Wochen auf Urlaub in der alten Heimat gewesen war. Nein, die Mama wolle zurück zu den Großeltern. „Aber... die Lehrabschlussprüfung!“ rief ich erschrocken, „Nur noch ein paar Monate, dann haben Sie einen Beruf! Für immer!“

„I waaß aa net. I kann mei Mama net allan fohrn lossn! Vielleicht kann i später einmal die Prüfung machen.“ Sie wirkte wie ferngesteuert. Die Wohnung war bereits gekündigt.

Die Föhnbürste in den Haaren, überlegte ich, was ich ihr in dieser Situation sagen könnte. „Sie müssen an sich denken, Nilgün! Es ist Ihr Leben! Kommen Sie bitte zurück und machen Sie die Lehrabschlussprüfung! Sie sind volljährig und österreichische Staatsbürgerin – Sie haben das Recht dazu!“

Sie warf mir einen Blick zu, aus dem ich Resignation, Verzweiflung und Distanz zu lesen meinte.

Die drei Geschichten handeln von verlorenen Töchtern. Ich könnte andere, dramatische Geschichten von Mädchen und jungen Frauen aus der Türkei, aus Pakistan und Syrien erzählen. Aber gerade diese drei Frauen hatten mich so sehr hoffen lassen, dass unsere Lebensweise die Kraft hat, ihnen den Weg zu einem selbstbestimmten, guten Leben zu weisen. Diese Hoffnung ist enttäuscht. Wir haben verloren. Sie auch.

Dieser Text ist erstmalig auf PRIKK.World erschienen.

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