Erste Hilfe - Der zusammengebrochene Ubahnfahrer

Wie die meisten Bürger habe auch ich einige Erste Hilfe Kurse hinter mir. In meinen Augen ist es äußerst wichtig, über die Grundlagen in dem Bereich Bescheid zu wissen, können doch Leben damit gerettet werden. Meistens sitzt dabei eine bunt zusammengewürfelte Truppe an potentiellen Ersthelfern in einem Raum, nickt beinahe weg bei abgedunkelter Atmosphäre und monotonem Runtergeleier einer Präsentation von Maßnahmen bei dieser oder jener Wunde, um danach wieder voll anwesend zu sein, wenn es um die praktische Demonstration der Wiederbelebung geht, die in Folge jeder Kursteilnehmer selbst probieren soll. Der Brustkorb des Gummitorsos hebt und senkt sich, während rot anlaufende Gesichter speichelproduzierend ihren letzten Hauch Atem gegen den Widerstand des Gummipuppenhalses pressen. Zarte Weiblein haben dabei oft wenig Erfolg und müssen sich geschlagen geben, während bierbäuchige Männlein sich ihres gigantischen Lungenvolumens rühmen. In jedem Fall sind alle höchst motiviert bei der Sache. Der Realfall sieht anders aus, wie ich kürzlich feststellen musste…

Vor einiger Zeit fahre ich von der Arbeit nach Hause. Ich steige also bei der Meidlinger Hauptstraße in die U4 ein und bin gerade einmal eine Station lang unterwegs. Weil mir langweilig ist, schlage ich das Kreuzworträtsel der Gratiszeitung auf. Mein französischer Kollege, der mithilfe des täglichen Rätsels sein Deutsch verbessert, hat mich dazu inspiriert. Wie so oft hält der Zug länger als geplant in der entsprechenden Station. An sich nichts Ungewöhnliches. Entnervt atme ich durch, weil ich es genau an diesem Tag eilig habe, voranzukommen. Andere Fahrgäste tun es mir gleich. Wir warten auf die Durchsage. „Wegen eines Vorderzuges…“ oder „Wegen der Erkrankung eines Fahrgastes…“ Nichts. Nur ein stehender Zug und schweigende Lautsprecher. Kurz darauf höre ich undeutliche Schreie vom Bahnsteig her kommend. Mein Instinkt sagt mir, dass etwas passiert ist.

Also klappe ich das Rätsel zu und dränge mich durch die eng gekuschelte Herde hinaus. Jetzt erst höre ich, was der auf und ab laufende Mann verkündet. Der Ubahnfahrer liegt reglos in seinem Abteil. Ich stürme nach vor, bereit zu helfen. Die Kabine ist versperrt, wir sehen nur durch das schmale Fenster, dass der Fahrer von seinem Sitz gestürzt am Boden liegt. Eine größer werdende Traube von Menschen bildet einen Halbkreis und gafft nur. Stille Beobachter der Szenerie, die sie offensichtlich nichts anzugehen scheint. Sogleich werde ich geschäftig. Frage, ob die Rettung bereits gerufen ist. Ist sie. Zücke mein Handy, mit dem ich Feuerwehr oder Ubahnaufsicht erreichen möchte. (Ich habe die Nummer der Aufsicht seit einem  Vorfall eingespeichert!) Da betritt diese bereits den Bahnsteig und schlurft lässig zum Ort des Geschehens. Ein Managertyp und seine warnwestenumhüllte Gefolgin, die einen besonders dämlichen Datterblick aufgesetzt hat. Sogleich trete ich ihnen in den Arsch.

Verbal, versteht sich, obwohl der dynamische Einsatz eher angebracht gewesen wäre. Für mich kaum zu packen, hebt der Managertyp die Hände und beschwichtigt die Leute, die ohnehin still danebenstehen und nichts tun. Ist das das Resultat eines Problemlösungsseminars? Menschenverstand ausschalten und Punkt eins abarbeiten? „Sperren Sie endlich auf“ fahre ich diesen an und bekomme eine pampige Antwort zurück. „Verbreiten Sie nicht so eine Hektik, gnädige Frau!“ Am liebsten würde ich ganz ungnädigerweise jetzt so richtig streiten mit ihm, so sehr in Rage bringt mich seine Aussage, aber es geht um Zeit, also bleibe ich bei der Sache. „Hier liegt ein Mann und es geht um jede Sekunde bei Erster Hilfe also bitte öffnen Sie jetzt diese Tür und lassen Sie mich hinein!“ Dazu erwähne ich, dass ich im Krankenhaus arbeite und helfen kann, was der Wahrheit entspricht. Gleichzeitig melden sich eine Krankenschwester und eine Ärztin dazu. Endlich hat das Dattergesicht ihren gefängnisverliesartig anmutenden Schlüsselbund in aller Gemächlichkeit durchsucht und das passende Stück gefunden. Als die Türe einen Spalt weit aufklafft, beschwichtigt der Manager nochmals die Leute. Punkt zwei der Problemlösungstrategien?

Die Krankenschwester, die sich ebenfalls am Arschtreten versucht, ist die erste, der Eintritt gewährt wird, sodass sie sich zu dem noch jungen Mann in die enge Kabine drängen kann. Zum Glück ist er noch nicht gestorben! Er ist ansprechbar, aber sehr wirr im Kopf, in einer weggetretenen Trance. Souverän und professionell kümmert sich die Krankenschwester zuerst um unseren Patienten. Aus dem Hintergrund raune ich ihr einige Fragen zu Erkrankungen zu, die sie ihm zusätzlich stellen soll. Offenbar gibt es keine Grunderkrankungen bei ihm. Ich werfe ein, dass wir den Mann aus dem engen Bereich schaffen sollten, um uns besser um diesen kümmern zu können, was den Managertyp dazu veranlasst, sogleich mit seiner geliebten Ausgangsposition –erhobene Beschwichtigungsarme- die Leute aus den Waggons zu schicken, die überflüssig sind. Endlich packt er gemeinsam mit der Ärztin den Mann und sie tragen ihn hinaus, legen ihn in den Mittelgang des Waggons. Dattergesicht schafft es aufgrund ihrer Fülle gar nicht erst in die Kabine hinein und muss rundherum gehen, macht sich aber noch immer nicht besonders nützlich. Ob ein Erste Hilfe Koffer vorhanden sei, fragen wir, als wir sehen, dass der Mann aus dem Mund blutet. „Nein, leider nicht, wir haben nur einen Defi.“ Und, wo ist der? Halloooo, Notfall, wir wissen nicht, was passiert ist, warum in aller Welt hängt der Defibrillator irgendwo in der Zentrale herum, während hier ein Mann das Bewusstsein verloren hat?!

Ob ihm kalt, warm ist, ob er Durst hat, fragen wir ihn. „Wir haben leider kein Wasser“, sagt Herr Manager. In die Menge geschrien „Wir brauchen Wasser!“ halte ich zwei Sekunden darauf drei Mineralwasserflaschen und ein Red Bull in den Händen! Eine zweite Ärztin hat sich dazugesellt, die auch meint, wir könnten in dem Fall sehr wenig tun, weil kein Arztkoffer zur Hand ist. Zum Glück treffen in dem Moment die Sanitäter ein und kümmern sich professionell um den Mann. Oben steht schon der Rettungswagen bereit und die zweite Ärztin und ich gehen zehn Minuten später nochmals nachsehen, weil wir erfragen wollen, ob schon bekannt ist, was dem Mann wirklich fehlt. Es lässt uns nicht los, interessiert uns beide aus beruflichen Gründen. Wir bekommen allerdings nur Auskunft von einem anderen Warnwestenkasperl:  „Dem geht es schon wieder besser, aber was ich sagen kann, ist dass er seinen Job verliert!“ Der junge Ubahnfahrer werde sonstwo untergebracht, aber dürfe nie wieder einen Zug chauffieren. Wiener Linien – Zusammenbrechen nicht erlaubt!

Da wir nunmehr unnütz sind, machen sich die Ärztin und ich gemeinsam auf den Weg. Alle  folgenden Ubahngarnituren sind  zwischendurch auf den anderen Bahnsteig umgeleitet worden. Wir steigen ein und befinden uns adhoc wieder in der Normalität. Das muntere Treiben einer Großstadt verschluckt in Windeseile Ausnahmesituationen wie diese und lässt fragen, ob da überhaupt etwas gewesen ist.Als die Ärztin früher als ich aussteigt, trennt sich unser gemeinsamer Weg, nachdem wir uns angeregt miteinander unterhalten haben. Daheim angekommen halte ich kurz inne und reflektiere das Erlebte. Ein Kuss von Realität, der ein zartes Prickeln hinterlässt…

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