Das ganze Jahr sind wir am Zaun zum Impfzentrum herumgeschlichen; unentschlossen ob wir dieses Kamikaze-Unternehmen wagen sollten. Argwöhnisch beäugt von Sicherheitsleuten, die nur darauf zu warten schienen, dass wir einen Stein aufheben und über den Zaun werfen könnten. In Schlangen sind die Menschen wartend davor gestanden.

Aber wir möchten doch bloß Geimpfte sehen, möchten ihnen nah sein, wenn sie als stolze und freie Menschen beseelt schwatzend und mit erhobenen Häuptern aus dem Impfzentrum kommen. Gesundheit, da ist war und ist die Währung von Erfolg, Fortpflanzung und Ansehen. Sobald sie das Areal verlassen, scharen wir uns in dichten Trauben um sie und versuchen, ihre Gewänder zu berühen, ihren Glanz in den Augen zu erhaschen, um wenigstens eines Zipfelchens des Glückes und der Gesundheit habhaft zu werden, die die frisch Geimpften ausstrahlen.

Es ist die Aura von Auserwählten, denn Geimpfte dürfen nun überallhin. Diese Aura macht sie schön, gottgleich, erhaben – sie zieht uns unwiderstehlich an.

Und doch fehlten wir nicht, so unser Eindruck, niemand hat uns vermisst, als wir unverrichteter Dinge wieder davon getrottet sind. Wir hatten nicht den Mut, wir hatten nicht die Courage uns dem kleinen Rohr von hohlem Stahl zu stellen.

Wenn sie ins Restaurant gingen, so fragten wir Ungeimpften sie, ob sich nicht die Tür ein klein wenig länger offen halten können, ob sie nicht das Fenster zum Lüften öffnen könnten. Denn wir wünschten uns nichts mehr, als dass einen Hauch dieser ungezwungenen Fröhlichkeit, das Lachen der Gäste, den Muff der Toiletten, das schäkernde Personals, das Klirren der Gläser zu uns herausdringt. Auch wenn wir uns anschließend hungrig und durstig an unseren heimischen Kühlschrank heranmachen werden.

Bier, Popcorn oder Magnum Mandel.. Im Supermarkt billiger, in den heimischen Kühlgeräten flexibler und jederzeit verfügbar, der Breitbildschirm reicht fürs Netflilx und wer mit einem muffelnden Döner zum Filmabend kam, den konnten wir hochkant rausschmeißen. Wir waren freier als im Kino.

Manche Ungeimpfte empfanden Neid darüber, dass andere mehr dürfen. Wir nicht. Unsere Freudlosigkeit im Leben war unser Gewinn. Warum sollten wir dies nicht mit anderen teilen, unser Elend spiegeln und vermehren? So hatten wir Zeugen, die uns Kunde geben könnten aus jener illustren Welt der tausend Möglichkeiten und doch uns in unserem selbtgewählten Gefängnis bestätigten. So war es bewiesen, dass sich unser Warten lohnte und es irgendwann eine Erlösung gäbe.

Aber sie kam nicht, die Erlösung, die Aura die die Geimpften umgibt. Bis zu dem einen Moment, als das Stahlrohr unseren Oberarm penetrierte.

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Zauberloewin

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Incubitus

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