Adventgeschichte: Das gewebte Bild (14): Eine Ankunft

Maria war angekommen. Nicht nur, dass sie vor nunmehr fast zwei Wochen das Haus betreten hatte, sondern sie war gewollt hier. Zunächst war ein Teil von ihr noch in ihrem alten Leben geblieben, denn nur an einem Ort zu weilen, heißt noch lange nicht dort zu sein. Bald schon zog dieser nach, der Teil der sich gewehrt hatte gegen das Hier-sein. Aber warum hatte sie sich verweigert? Weil wir wohl immer am bekannten hängen, an dem, was wir uns erarbeitet und aufgebaut haben, ganz gleich ob es uns gut tut oder nicht. Irgendwann haben wir es uns eingebildet, und dann, wenn wir es haben, dann kann es doch nicht falsch sein, darf es nicht sein. Es ist immer schwer loszulassen, denn wir haben Angst vor den leeren Händen, vor dem Moment, da wir unsere Hände ansehen und meinen nichts mehr zu haben. Doch dann wird uns etwas Neues hineingelegt, irgendwoher. Es ist unsicher. Zu unsicher. So doch lieber Sicherheit und Gewohnheit. Aber mittlerweile merkte Maria, dass sie mit zunehmenden Widerwillen daran dachte wieder weggehen zu müssen, Widerwillen gegen das, was sie bei dem Praktikum erwartete. Dabei war es doch vor wenigen Tagen noch das gewesen, was sie sich am meisten gewünscht hatte. Was war nur mit ihr passiert? War sie denn wirklich so flatterhaft und wankelmütig, dass sie gerade noch so dachte und im nächsten Moment ganz anders? Und wenn sie auf dieses Praktikum verzichtete, wäre sie nicht furchtbar undankbar? Undankbar den Menschen gegenüber, die ihre ganze Hoffnung in sie setzten, die sich rückhaltlos für sie einsetzten?

„Diese Chance erhalten nur die Besten der Besten“, klangen Maria noch die Worte ihres Professors im Ohr, „Ich kann mich also darauf verlassen, dass Sie Ihr Bestes geben.“ Es war keine Frage, es war ein Befehl.

„Natürlich können Sie sich auf mich verlassen“, hatte Maria gefällig geantwortet, „Ich fühle mich sehr geehrt.“

„Wissen Sie“, setzte der Professor fort, doch er stieg erstmals von seinem Schreibtisch herunter, auf dem er Studenten gegenüber zu sitzen pflegte und wandte sich ab von ihr, hin zum Fenster, als wollte er nicht, dass sie sah, dass er was sagte, „Ich hätte alles dafür gegeben solch eine Chance zu erhalten. Das, was Sie jetzt bekommen, das geht nur, weil sich die richtigen Leute an der richtigen Stelle für Sie einsetzen. Mir war dieses Glück nicht vergönnt, so dass ich viele Jahre länger brauchte um das zu erreichen.“

„Und ich habe es mir erarbeitet“, wollte Maria schon sagen, aber sie verkniff es sich. Stattdessen hörte sie sich Dinge sagen, wie „Das Leben ist oft ungerecht“ oder so etwas Ähnliches. Aber so sehr sie sich auch bemühte, es war nicht ihr Traum, und es wurde auch nicht ihr Traum. Jetzt erst, einige Wochen später, wurde ihr bewusst, dass es für ihren Wohltäter nicht um sie gegangen war, sondern sie sollte stellvertretend für ihn seinen Traum erfüllen. Maria fühlte sich mit einem Mal verraten und missbraucht. Missbrauch ihres Lebens für ein anderes. Wie sehr doch Dankbarkeit manchmal missbraucht wird. Ewig würde sie ihm dankbar sein müssen. Für immer in seiner Schuld stehen, und das, obwohl sie es gar nicht wollte. Aber was wollte sie dann? Vielleicht hatte sie nur so bereitwillig zugestimmt, weil ihr jemand die Last abnahm zu überlegen was sie wollte. Er hatte es ihr einfach vorgegeben, und sie hatte danach geschnappt, wie der Hund nach einem Knochen, Aber noch hatte sie Zeit es sich zu überlegen. Sie hatte Zeit die Entscheidung wegzuschieben, und sie hielt inne, mitten in der Bewegung.

„Warum kann die Zeit nicht einfach stehenbleiben und sich dieser Tag wiederholen, immer und immer wieder, bis ans Ende meiner Tage, oder zumindest so lange, bis ich weiß was ich will, bis ich weiß wohin ich gehöre“, brach es aus Maria heraus, und sie war so versunken, dass sie gar nicht merkte wie Martin, der Eselwallach, die Gelegenheit ihrer Geistesabwesenheit nutzte um in aller Ruhe die Karotten aus ihren Händen zu fressen, die sie gerade hielt um sie an die Tiere zu verteilen. Mitten im Stall stand sie. Erst als sich Martin genüsslich die letzte Karotte einverleibte, kehrte Maria zurück. Dann endlich begriff sie was passiert war, „Weißt Du, wenn ich mich einmal entschieden habe, dann gibt es kein Zurück mehr. Ich kann nicht in ein paar Wochen sagen, ich will jetzt doch das andere. Es ist irreversibel. So wie die Karotten nun irreversibel in Deinem Bauch gelandet sind. Also zumindest in der Karottenform.“ Martin ließ sich nicht beirren durch ihre Worte. Gemütlich fraß er weiter, bis auch der letzte Zipfel verputzt war. Sollte sie nur. So lange sie es nicht in Erwägung zog ihm das Futter zu entziehen, konnte sie von ihm aus reden so lange und so viel sie wollte. Dafür ließ er sich auch zwischen den Ohren kraulen.

„Aber jetzt raus mit Euch“, sagte Maria lachend, und entließ die Tiere auf die Weide, damit sie sich in Ruhe an die Säuberung des Stalles machen konnte. Das vertraute Geräusch stapfender Hufe hörte sie, und das Gackern der Enten, die jeden ihrer Gänge lauthals kommentierten, doch dann war etwas anders. Da mischte sich ein Geräusch in das Vertraute, das nicht hierher gehörte und das sie schon lange nicht mehr gehört hatte. „Das gibt es doch nicht“, schoss es Maria unwillkürlich durch den Kopf, „Wie verirrt sich ein Auto hierher?“

Neugierig steckte sie den Kopf aus dem Stall. Es war tatsächlich ein Auto, ein dunkler Jeep. „Der kann sich doch nur verfahren haben“, meinte Maria, doch es wirkte nicht so, denn der Fahrer schien genau dort zu sein, wo er hin wollte. Rasch sprang er aus dem Auto und schritt auf die Türe zu.

„Das kann nicht wahr sein!“, dachte Maria, doch sie fühlte sich, als hätte sie während der letzten Sekunden Wurzeln geschlagen und käme nicht mehr weg, „Aber es muss wohl wahr sein, denn ich sehe es doch, mit meinen eigenen Augen.“

Der Gang, die Art die Hand in die Jackentasche zu stecken, all das war ihr vertraut, so wie ihr der Fahrer vertraut war. Nur der gehörte ganz und gar nicht hierher. Endlich gelang es ihr doch sich aus ihrer Erstarrung zu lösen und ebenfalls ins Haus zu gehen.

„Hallo Maria“, sagte der Mann, der soeben das Haus betreten hatte und sich bereits in einem angeregten Gespräch mit Magdalena befand, das er kurzerhand unterbrach, als er Maria sah, um lächelnd auf sie zuzugehen.

„Hallo Uwe“, entgegnete Maria kurz, „Wie ... was ... warum.“

„Nun setzt euch doch mal, ich werde uns Tee machen“, meinte Magdalena und begab sich in die Küche.

„Was wolltest Du fragen?“, meinte Uwe, immer noch lächelnd.

„Wie kommst Du hierher? Was machst Du hier? Warum bist Du gekommen?“, brachte es Maria nun doch zustande ihre Fragen zu komplettieren.

„Das war alles nicht so schwer“, meinte Uwe, „Ich habe heute Deine Postkarte bekommen und nachdem ich Dich seit mehreren Tagen nicht erreicht habe, habe ich mich sofort ins Auto gesetzt und bin hergefahren. Ich hatte schon die Befürchtung, Dir wäre etwas passiert.“ Er hielt inne um sie genau zu betrachten, „Und es ist auch was passiert, aber etwas mit dem ich nicht gerechnet habe.“

„Aber wie hast Du mich gefunden?“, fragte Maria weiter, den letzten Satz geflissentlich überhörend.

„Also nichts einfacher als das“, erwiderte Uwe lachend, „Ich stamme aus einem kleinen Dorf in Kärnten. Ich weiß genau wie man mit den Leuten reden muss, um alles zu erfahren was ich erfahren will. Die Menschen, oder die meisten von ihnen, die am Land leben haben offenbar immer das dringende Bedürfnis ihre Informationen mit anderen zu teilen.“

„Ja, das ist wohl so“, meinte Maria zustimmend, „Es ist schön, dass Du da bist.“ Überrascht hielt sie inne. War wirklich sie es gewesen, die das gesagt hatte? Es passte nicht zu ihr, wie sie fand, aber es fühlte sich gut an, gut und, vor allem, richtig.

„Es ist schön hier zu sein“, ergänzte Uwe, während er sie sacht in die Arme nahm. Es tat gut sich auszuruhen, anzulehnen, anzukommen. Und ein Ankommen muss nicht unbedingt ein Ort sein. Vier kleine Welpen wuselten um ihre Füße. Der dreisteste unter ihnen versuchte seine kleinen Welpenzähne an Uwes Hosenbein aus.

„Der kleine Racker wird wohl der Rudelführer werden“, sagte Uwe lachend, „Aber er ist ja auch der Hahn im Korb.“

„Woher weißt Du das?“, fragte Maria irritiert, Uwes Umarmung ein wenig lockernd, dass sie ansehen konnte.

„Ich habe sie mir ein wenig näher angesehen“, erklärte er.

„Willst Du den Hof sehen?“, fragte Maria, mit einem Seitenblick auf Magdalena, „Wie lange wirst Du bleiben?“

„So lange ich darf“, entgegnete Uwe kurz, und Magdalenas Nicken war ein Einverständnis. Fast hätte Maria gemeint, es wäre das gewesen worauf Magdalena gewartet hatte. Nun saß sie wieder neben dem Ofen und beobachtete das Geschehen voller Freude.

An diesem Abend saßen sie zu Dritt am Tisch, während das Webschiffchen weiterfuhr, einen neuen Abschnitt beginnend, der erst die ersten Konturen zeigte, aber unverkennbar da war, am Webbild des Lebens. Und es war der Abend des vierzehnten Advents.

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Paradeisa

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Hansjuergen Gaugl

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