110 Dezibel Wohlstand: Warum Rasen mehr Rechte hat als Menschen

Es beginnt pünktlich um 08:01 Uhr. Der Nachbar – nennen wir ihn Herr Dampf – zieht am Starterseil seines benzingetriebenen Selbstwertgefühls. Es röhrt auf, der Motor hustet Ruß, der Rasen zittert, die Vögel fliehen – und mit ihnen der letzte Rest von Intelligenz. Willkommen im Fegefeuer suburbaner Gerätekultur, wo der Mensch nicht lebt, sondern mäht, bläst, sägt, fräst, kreischt, knattert – und zwar nicht, weil es notwendig wäre, sondern weil er es kann.

Wieso ist das erlaubt? – Die Frage stellt sich nur, wenn man annimmt, dass Gesetzgebung irgendeinen Zusammenhang mit Vernunft hätte. Doch wir leben nicht im Zeitalter der Aufklärung, sondern im Zeitalter des Aufsitzmähers. Man darf hierzulande kein Feuer im Park machen, aber man darf seine gesamte Nachbarschaft mit einem Zweitaktmotor terrorisieren, dessen technische Ursprünge im Vietnamkrieg vermutet werden.

Diese Gartengeräte sind nicht Werkzeuge – sie sind Kriegswaffen im Kampf gegen das organische Leben. Benzin-Laubbläser zum Beispiel: Geräte, deren einziger Daseinszweck darin besteht, ein Blatt von links nach rechts zu jagen – bei maximalem Energieeinsatz, minimalem Effekt und einem Geräuschspektrum, das irgendwo zwischen Presslufthammer und Zahnarztbohrer rangiert. Warum kehren, wenn man auch die Apokalypse simulieren kann?

Und der Staat? Der Staat horcht nicht hin. Der Staat ist beschäftigt mit der Subventionierung von Plug-in-Hybriden, die nie aufgeladen werden, während Herr Dampf mit 110 Dezibel den „Englischen Rasen“ pflegt, als hinge die Zivilisation davon ab. Es gibt Gesetze zum Schutz des Rasens, aber keine zum Schutz der Menschen vor dem, der ihn mäht. Kein Wunder: Der Täter trägt Polohemd und Grillzange – und nicht etwa eine Sturmhaube.

Und wir, die wir das alles dulden, die wir uns samstags mit Podcasts über Achtsamkeit in der Küche einsperren, während draußen das Inferno röhrt – wir sind die wahren Komplizen. Wir kaufen die Geräte, wir tanken das Zeug, wir vererben die Rasenkultur weiter wie das gute Tafelsilber: Kind, hier ist dein erster Laubbläser. Damit du lernst, wie man aus Leben Lärm macht.

Dass Akkugeräte existieren? Dass Rasen auch wachsen darf? Dass die Natur von selbst Ordnung findet? – Lächerlich! In einer Welt, in der man lieber CO₂ verballert als Kompost anfasst, gilt jedes Geräusch als Zeichen von Leistung, jedes Schweigen als Schwäche. Und so drehen sie weiter ihre Runden, diese Gartengeneräle, auf ihren brummenden Mähpanzern, während der Planet kollabiert und das Rotkehlchen mit Burnout zum Vogelpsychologen flattert.

Die Wahrheit ist bitter: Der Mensch hat sich gegen den Baum entschieden – und für das Gebrüll seiner Maschinen. Er will keine Natur, sondern einen Vorgarten, der aussieht wie ein Golfplatz und klingt wie der Endsieg.

Warum das erlaubt ist? – Weil niemand den Mut hat, es zu verbieten. Weil Wohlstandslärm für viele der letzte Beweis ist, dass sie noch etwas sind. Und weil in einer Welt, die im Großen versagt, das kleine Motorbrüllen als Triumph missverstanden wird.

Der Rest ist Stille – bis nächsten Samstag.

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