Gestern schien es ein Tag zu werden wie jeder andere. Vielleicht hätte er sogar eher zu den guten Tagen gezählt. Auf einer Skala von 1 bis 10 eine 6 oder möglicherweise 7.

Ich stand auf, wusste, was ich zu tun hatte, kam gut voran und war dabei auch noch recht gelassen, was die letzte Zeit eher selten vorkam. Es war nicht zu heiß, nicht zu kalt, alles völlig unscheinbar. Und dann, kurz nach Mittag, passierte es - ich wurde zur Ersthelferin.

Ein kleines Mädchen, keine anderthalb Jahre alt, war gestürzt. Aus circa 40 Zentimetern Höhe, sie hatte einen Stein im Mund, den sie mit einer Hand festhielt, und schlug unglücklich damit auf. Sie begann, augenblicklich zu weinen, griff sich ins Gesicht, da wusste ich, es ist etwas passiert. Etwas, das man nicht wegtrösten kann..

Sofort bin ich zu ihr, als ich sie aufhob, sah ich schon, wie sich ein kleiner Spalt über der Lippe mit Blut füllte. Und plötzlich war es überall. Auf ihren Händen, auf meinen, auf ihren Füßen, ihrer Kleidung, in ihrem Gesicht, es tropfte zu Boden. Nach einer, höchstens zwei Sekunden, begann mein Gehirn endlich richtig zu arbeiten und mir fiel ein, was ich tun musste. Derweil das Mädchen fürchterlich schrie und weinte und überall mehr und mehr Blut war, suchte ich etwas, um die Blutung zu stillen. Währenddessen fiel mir auf, es kam auch aus ihrem Mund - sofort kam die Angst, da war noch mehr verletzt, vielleicht noch schlimmer.

Aber all das musste warten, die Panik, die Angst, der Stress. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren, klar denken. Leichter gesagt als getan, oder? Denn das kleine Mädchen ist meine Tochter.

Während ich ihr ein Wattepad gegen die Wunde drückte, rief ich meinen Mann an: "ich brauche Hilfe, wir müssen ins Krankenhaus, sie ist gestürzt, sie blutet, hat eine Platzwunde an der Lippe, muss vielleicht genäht werden - komm schnell nach Hause!"

Wo ich mein Handy her hatte? Ich weiß es nicht, in Geistesgegenwart mitgenommen. Wie ich gewählt, telefoniert habe, während sie schrie, ich ihr das Wattepad draufdrückte, darauf achtete, sie nicht damit zu ersticken und sie dabei auf dem Arm gehalten habe? Keine Ahnung, es ging. Es musste gehen.

Als Nächstes wählte ich die Nummer meiner Schwägerin, sie hat zwei Kinder, oft genug erzählt, wie die sich Lippen und sonst was aufgeschlagen haben - sie konnte helfen, mir sagen, worauf ich achten muss. Und genau das tat sie. Die Hälfte habe ich mit weinendem Mädchen auf dem Arm nicht verstanden, unzählige Male nachgefragt, aber ja, im Großen und Ganzen war es richtig, was ich tat. Kühlen wäre noch sinnvoll, aber das hat mein Gehirn nur noch peripher erreicht.

Langsam hörte die Blutung auf, während ich mit schreiendem Kind am Arm weiter fieberhaft überlegte, was zu tun war, tat ich es auch. Beim Hin- und Herlaufen wischte ich Blut auf, wusch sie, tröstete sie, überlegte, wo was war, was wir brauchten, wenn wir in die Klinik fuhren. Da kam mein Mann zur Tür rein, unsere Tochter hatte sich sogar langsam beruhigt. Irgendwo zwischendrin wuselte auch noch der 40 Kilogramm schwere und 70 Zentimeter große Hund herum. Ehrlich? Ich habe ihn nicht mehr wahrgenommen.

Ich half meinem Mann packen, kontrollierte mit Rufen und Handgriffen und auf Sicht, ob wir alles hatten und es ging endlich in die Klinik. Endlich.

Angekommen sind wir anderthalb Stunden nach dem Sturz, denn allein die Fahrt dauerte fast eine Stunde. Unsere Tochter hatte sich soweit beruhigt, die Blutung großteils aufgehört, das Adrenalin soweit nachgelassen, dass sie sogar eingeschlafen ist. Wie wir es sonst bis zur Klinik geschafft hätten, kann ich mir nicht vorstellen. Nicht auszudenken, wie es Eltern gehen muss, die alleine mit schreiendem oder gar blutendem Kind am Rücksitz so lange unterwegs sein müssen, ohne einen Unfall zu bauen. Ruft man denn in so einem Fall schon die Rettung?

Im Auto ließ auch meine Anspannung langsam nach, zu früh, denn mir kamen die Tränen, aber unsere Tochter war noch wach. Halt durch, sagte ich mir, bis sie schläft (denn es war zu dem Zeitpunkt schon absehbar) und als sie es tat, weinte ich ein paar Mal. Das war gar nicht zu verhindern. Wie der Sturz. War ich froh, dass ich nicht alleine war und mein Mann fuhr. Der war zwar auch sichtlich mitgenommen, aber als "Hinzukommender", als das Gröbste bereits vorbei war, längst nicht so durch den Wind.

In der Klinik stellte sich heraus, wir hatten Glück im Unglück. Hat man das nicht immer? Es könnte letztlich jedes Mal schlimmer ausgehen und nur daran denkt man - dass es eben nicht noch schlimmer ist und dafür ist man unendlich dankbar. Erleichterung kam auf, endlich Sicherheit und Gewissheit, dass wir es überstanden hatten. Der Heilungsprozess startete quasi augenblicklich. Es würde nicht schlimmer werden, nicht mehr auf uns zukommen, wir mussten der Verletzung nur Zeit zum Heilen geben und auf Hygiene achten und, ja, k-ü-h-l-e-n.

Die Verletzung stellte sich als ziemlicher Riss innen und außen heraus, der an einer Stelle zu viel klaffte. Nähen? Eher nicht, obwohl es schon Sinn hätte. Zu schwierig bei so kleinem Kind, zu wenig Nutzen in Anbetracht der Panik des Kindes. Nun, bei den Ärzt:innen muss man nochmal funktionieren, nüchtern bleiben, präzise sein, zuhören, denn dann können sie am schnellsten helfen und man ist am schnellsten wieder raus. Tatsächlich waren wir in unter 30 Minuten vom Klinikgelände wieder runter.

Auf dem Heimweg informierte ich die ganze "Verwandten"kette, die wir seit dem Unfall in Gang gesetzt hatten. Denn die eine Oma hätte zu Besuch kommen sollen, irgendwer musste auch für den Hund da sein, notfalls mit ihm Gassi gehen, wir könnten schließlich Stunden brauchen, und die Schwägerin wollte auch auf dem Laufenden gehalten werden - logisch.

Alle sagten sie dasselbe neben den Genesungswünschen und der Erleichterung: "Das passiert halt."

Und dieser Satz hängt mir jetzt, Stunden später, noch nach. Das passiert halt. Sowas passiert halt.

Was meinen sie denn damit? WIE meinen sie es? Beruhigend? Beschwichtigend? Oder sagen sie es, damit ich mir keine Vorwürfe mache? Oder ermahnen sie sich damit selbst, mir keine Vorwürfe zu machen? So gesehen - alles auf der Welt passiert halt. Was will man denn mit so einer Aussage bezwecken? Trösten? Ich weiß es nicht. Ich hätte mir gewünscht, jemand hätte mir gesagt, dass ich es gut gemacht habe, dass ich toll reagiert habe. Dass wir es nun hinter uns haben. Nicht, dass sowas halt passiert.

Ich will nicht undankbar erscheinen, aber es hat mich nachdenklich gemacht, vielleicht traurig und die Frage, ob ich schuld bin, kam damit erst auf. Und dass ich nun diesen Text schreibe und deshalb nicht schlafen kann, ist dem irgendwie auch geschuldet. Ich weiß, alle meinen es gut.

Aber man kann die Geschichte so sehen, dass sowas halt passiert, oder aber, was für ein einschneidendes Erlebnis es war. Was Eltern so alles auf sich nehmen müssen mit Kindern, wie gut sie funktionieren müssen, da wird man sogar zum Ersthelfer - ich hatte mit so etwas noch nie vorher zu tun, mein letzter Erste-Hilfe-Kurs ist Jahre her. Und was bleibt, ist der bittere Beigeschmack, dass man Eltern und alles, was mit Kindern anfällt, unterschätzt und zu wenig Anerkennung schenkt. Auch den Ärzt:innen in der Klinik, sie haben meinen tiefsten Respekt. Ruhig bleiben in solchen Situationen, mit vielleicht völlig aufgelösten Eltern, schwer verletzten, schreienden kleinen Kindern, Blut, überall, und dann ist man möglicherweise auch noch selbst Mutter oder Vater und soll einen kühlen Kopf bewahren, die Situation einschätzen und handeln und nicht durchdrehen. Ich weiß nicht, ob von denen jemand eine Freude hat, wenn man ihnen sagt - das passiert halt. Auch, wenn es, wie auch immer, positiv gemeint ist.

Das Ende der Geschichte? Unserer Tochter geht es gut. Zuhause angekommen war es so, als wäre nie etwas passiert. Diese kleinen Kinder, weiser sind sie als jeder Erwachsener. Sie hängen dem Schmerz nicht nach, sie nehmen ihn hin und konzentrieren sich auf das, was sie können und sie umgibt - liebe Menschen, ihr Zuhause, Geborgenheit. Sie lachen und schieben die Angst beiseite. Stürze tun weh, aber wer nicht stürzen will, muss stillstehen. Und dafür ist der Mensch nicht gemacht. Und sie liegen nachts nicht wach und grübeln, sondern schlafen. Denn zum Sorgen machen sind andere da, richtig? Richtig, irgendwie richtig.

Würden Kinder sagen, das passiert halt? Vielleicht. Vielleicht nehme ich auch nur alles zu ernst. Und dennoch...all das hat mich betroffen gemacht, etwas in mir angerührt, mal kräftig geschüttelt. Da wird man sich wieder bewusst, wie verletzlich, aber auch wie stark Menschen sein können. Wie gern hätte ich den Mut und die Tapferkeit meiner Tochter.

Vielleicht habe ich ihn und der Sinn der Aussage, das passiert halt, wird mir erst später bewusst. Und irgendwann geh ich vielleicht auch zu Eltern hin und sage ihnen, das passiert halt. Und im Geiste klopfe ich ihnen als Eine von Vielen auf die Schulter, die das schon durch hat. Die weiß, was so ein Unfall anrichtet, die weiß, wie es ist, Ersthelferin beim eigenen Kind zu sein, sein zu müssen.

Und mit dem geistigen Schulterklopfer schließt sich dann doch wieder der Kreis der Solidarität untereinander. Vielleicht ist das Wunschdenken, vielleicht aber auch die Wahrheit.

Vielleicht macht man es auch nur, um nicht durchzudrehen, denn besser, man denkt gar nicht mehr zu viel darüber nach - all das ändert nämlich nichts daran, wie es gekommen ist und was noch kommen wird. Denn auch das Nächste wird passieren, es wird unvermeidlich gewesen sein, und dann muss man wieder funktionieren und einen kühlen Kopf bewahren und kann weder vor- noch zurückschauen.

Was man aber kann, ist den Augenblick genießen. Die kleine Tochter, die behütet neben einem schläft, weil sie es kann. Der Mann, der bereits im Träumeland versunken ist und schon bald wieder aufstehen muss. Der Hund, der sowieso immer vergibt, egal, wie oft er zu kurz kommt, der arme Kerl. Die Nacht, die sich über den Tag legt wie eine Decke, beruhigend, tröstend und ganz leise sagt: "das passiert halt...aber jetzt ist es vorbei, jetzt kannst du dich erholen." Und das werde ich jetzt auch tun.

Gute Nacht.

Bessi/pixabay https://pixabay.com/de/photos/geschwister-bruder-schwester-kinder-817369/

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