Der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Jänner wird wieder zahlreiche Menschen dazu veranlassen, andächtig die Gedenkstätten aufzusuchen. Einige Herrschaften des öffentlichen Lebens werden auch wieder mit salbungsvollen Worten „Niemals wieder“ geloben und das Publikum beschwören, dass niemals in Vergessenheit geraten darf, wie wichtig es ist, bereits den Anfängen zu wehren. Große Worte. Wichtige Worte.

Es werden wieder Bilder ausgepackt aus den Archiven, auf welchen das unvorstellbare Leid, das Menschen durch Menschen angetan wurde, veranschaulicht wird. Die Zeitzeugen und Opfer des nationalsozialistischen Regimes, welche in einer Güte, die einem die Gänsehaut aufsteigen lässt, über die wahren Dimensionen aus erster Hand berichten können, werden leider immer weniger. Und mit ihnen scheint leider auch die Achtsamkeit gegenüber den Gefahren blinden Hasses, der viel zu leicht geschürt werden kann auf dem Nährboden der Angst, zunehmend zu verschwinden. Vom Verstand her scheint es schon klar zu sein, dass es kaum jemanden gibt, der eine Wiederholung dieser Massenvernichtung von Menschen nach willkürlich festgelegten äußeren Kriterien anstrebt. Doch immer weniger scheinen die emotionale Komponente zu erfassen: zu stark scheint die Erinnerung der Gesellschaft an die Auslöser des wohl dunkelsten Abschnittes der europäischen Geschichte zu verblassen. Wie sonst ist zu erklären, dass kein Widerspruch zwischen „Niemals wieder“ und der Beflissenheit, mit welcher die Mitmenschen unentwegt anhand weniger oberflächlicher Kriterien mit Vorurteilen belegt und danach auch behandelt werden, gesehen wird?

Machen wir einen Test: Stellen Sie sich vor, in einer Zeitung wird im Zuge der Berichterstattung über eine Geiselnahme mit Todesfolge betont, dass der mutmaßliche Täter ein Gürtelträger war. Natürlich mit Bild von einem braunen Ledergürtel mit Messingschnalle. Also einem ziemlich unauffälligen, gewöhnlichen Gürtel. Dazu kommt eine Statistik, in welcher mit einer vertrauenserweckenden Quellenangabe dargestellt wird, dass in über 99 Prozent der Geiselnahmen mit Todesfolge während der letzten Jahre die überführten Täterinnen und Täter Gürtel getragen haben. In den Nachrichten kommt wenig später eine Psychologin zu Wort, welche im Gürtel ein Symbol der Gewaltverherrlichung erkennt und dazu beispielsweise an die aus früheren Geschichten bekannten Züchtigungen von Kindern mit diesem bloß vermeintlich harmlosen Bekleidungsutensil erinnert. In den nächsten Tagen flimmern dann über die Timeline auf facebook und twitter Meldungen, dass auch bei anderen Gewaltverbrechen die ausgemachten Verdächtigen jeweils Gürtel getragen haben. Wie wird es Ihnen gehen, wenn Sie bemerken, dass der Schulwart jener Schulde, in welche Sie Ihre Kinder bringen, ebenfalls einen Gürtel trägt? Was spielt sich in Ihrer Bauchgegend ab, wenn Sie bei der Chefin, zu der Sie immer schon Zweifel hatten, ob diese Sie nicht bei nächstbester Gelegenheit rauswerfen möchte, einen Gürtel um die Hüfte erkennen?

„Niemals wieder“ also. Ist man sich dessen heute überhaupt noch bewusst, was man sich damit gelobt? Ist man noch bereit, die dafür erforderliche Achtsamkeit an den Tag zu legen? Spürt man noch das angerichtete unvorstellbare grausame Leid, welches Millionen Menschen ertragen mussten, nur wenige überlebten und dessen Wiederholung es zu vermeiden gilt, als Auftrag und Motivation dafür? Oder würde es vielleicht gar nicht auffallen, wenn wieder jemand die Macht an sich reißen möchte, indem er Ängste schürt und mit der Vernichtung eines vermeintlichen gemeinsamen Feindes, der mit Vorurteilen willkürlich geschaffen für alles Unbill verantwortlich gemacht werden kann, die Lösung verspricht? Niemals ginge das? Wie ist es dann mit Aussagen über "alle" Frauen, "alle" Männer, "alle" Flüchtlinge; wie mit "allen" Menschen, die für eine Willkommenskultur eintreten und "allen", die sich abschotten wollen; wie mit "allen" Menschen, die einen einmal beleidigt haben? Die Liste ließe sich leider unendlich fortsetzen. Und ständig kommen neue Klischees hinzu – wie rasch das geht, zeigt vielleicht das Beispiel mit den Gürtelträgerinnen und Gürtelträgern.

Wenn am 27. Jänner zum Gedenken an den Holocaust also wieder der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau in Erinnerung gerufen wird, dann kann das auch als Chance für die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft verstanden werden. „Niemals wieder“ kann nämlich auch helfen, zu den gegenwärtigen Herausforderungen Lösungswege zu finden. Im Großen, wie auch im Kleinen. Mit Achtsamkeit. Wertschätzung des Individuums. Und Verzicht auf Vorurteile, welche aus einem viel zu rasch Marionetten werden lassen.

shutterstock/Everett Historical

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