Nach der Brexit-Abstimmung mehrten sich auf Google die Anfragen: "Was ist die EU?" Anzunehmen, dass hier nicht ländliche Pensionierte dahinter standen, sondern geschockte Jugendliche. Und obwohl das nur 1.000 wahrscheinlich zu spät gekommene EU-Interessierte waren, so verlor das Referendum seine Befürwortung durch die Absenz der Jugend.

So blöde Fragen sind oft die Besten! Ja, also was ist die EU wirklich? (Wissen eigentlich die EU-Verantwortlichen selbst, wofür sie stehen, was EU-Sinn und -Zweck sind neben den matten Definitionen als "Friedensprojekt" und "Wirtschafts-Union"?) Ein Antwortversuch:

Grundsätzlich geht's doch um die Art des Regierens, oder? Und welche Herrschafts-Formen kennen wir?

1.0 Die Diktatur. Eindeutig männlich dominiert. (Eine weibliche Spezies ist so gut wie unbekannt.) Der stärkste Gorilla schnappt sich alle Bananen. Der Häuptling herrscht autokratisch über den Stamm. Einer dominiert alle! Keine Widerreden oder gar Kritik sind erlaubt. Lächerlichmachen wird schwerstens bestraft. Kabarett und Karrikaturen daher unerwünscht. Kein schlechtes Konzept für Not- und Krisensituationen wegen der kurzen Entscheidungsweges. Risiko für alle, wenn ein Verrückter am Werk ist.

2.0 Feudalismus: Eine Clique herrscht (meist) autoritär. Sie schiebt sich die Pfünde zu, bestimmt die Geschehnisse, passt Gesetze zur eigenenn Machtabsicherung an, schwächt und unterdrückt oppositionelle Kräfte. Die bekannten Formen reichen vom Adels-Geschlecht über Partei-Bonzentum (Sowjetunion gestern, China heute) bis zu Familien-Clans (ital. Mafia, die Kims in Nordkorea, Ghandis in Indien etc.). Das "Establishment" in vom Volk abgehobener Form führt mehr oder weniger autokratisch. Grundprinzip: Eine Minderheit unterdrückt die Mehrheit.

3.0 Demokratie: Da kehrt sich dieses Prinzip in sein Gegenteil um: Die Mehrheit überstimmt die Minderheit. Das wird auch sichtbar daran, dass in den meisten Demokratien große Probleme mit Minderheiten existieren. Nicht gerade sympathisch... Großes Risiko: Charismatische, narzistisch gestörte Aufschneider, Schwindler, Clowns reden sich an die Macht: Beppo Grillo, Donald Trump, Richi Lugner, Le Pen, Boris Johnson, Jörg Haider und wie sie alle heißen. Sehr viel an Energie, Geld und Zeit fließen in der demokratischen Arena in Machtkämpfe. Ängstliche, bildungs-ferne Schichten überrumpeln die reflektierte Intelligenzia. Jüngstes Beispiel: Brexit. Der Spruch Churchills "Die Demokratie ist eine schlechte Regierungsform, aber wir kennen keine bessere!" enthält doch die versteckte Aufforderungen dieses großen, ersten, echten Polit-Europäers: Erfindet endlich etwas Neues, Besseres! Denn das Bessere tötet das Gute! Daher:

4.0 Konsensualismus: Alle setzen sich an einen runden Tisch und verhandeln so lange, bis Einvernehmen zwischen allen hergestellt wird. Ev. reicht auch ein fauler Kompromiss. Größtes Problemfeld: Jede Entscheidung dauert ur-lange, oft zu lange und die Institutionen verfügen nicht über die Flexibilität und ausreichenden Regelwerken, um das Entscheidungstempo zu dimmen. Europa wagt vom Anfang an diesen gesellschaftspolitischen Quantensprung. Was als Experiment begonnen hat, ist nun eins noch lange nicht ausgewachsene, völlig neue Art des politischen Herrschens. Zwischen 1.0 und 3.0 nimmt die patriarchalische Machtausübung immer mehr ab. Bei 4.0 betritt eine Art Matriarchat die polititsche Weltbühne. Fürsorge mit und für alle, auch für die kleinen (Länder). Diese mütterliche Leistung wird immer wieder kritisiert: Mutti, du kümmerst dich zu wenig um deine Kinder! Es ist immer zuwenig Liebe da! Dennoch gewährt sie ziemlich gleiche Stimmrechte auch für die kleinsten und schwächsten, wenn sie ihre Hausaufgaben machen, können sie am gemeinsamen Tisch Platz nehmen: Serbien, Albanien, Türkei (muss noch etwas warten!). Und der böse Bube, der glaubt, schon groß genug zu sein, seinen eigenen Weg zu gehen, muss ausziehen! Es geht trotzdem weg vom Konfrontieren und hin zum Kooperieren! Erziehungsregeln werden aufgestellt, schlechtes Benehmen wird (nicht gleich, aber doch) bestraft. Insofern gleicht Mama EU die Streitereien aus, hat Verständnis, muss ihre Mutter-Rolle aber noch einüben.

Kein Wunder, dass die Demokratien sich bei diesem Szenen-Wechsel davor fürchten, unter die Räder zu kommen. Das wird ihnen auch passieren, sie müssen geradezu Ihre Autonomie einbüßen oder strikt einschränken. Und das ist auch gut so, denn die Degenerations-Erscheinungen der Nationalstaaten können gar nicht mehr übersehen werden. Andererseits scheint die Union das Herrschen noch nicht besonders gut zu beherrschen. Muss noch viel lernen, verändern, reformieren. Das braucht Geduld, die viele nicht mehr zu haben glauben...

Mitterand fragte einst Teng-Hsiao-Ping was er von der französischen Revolution halte. Seine Antwort: Kann man noch nichts sagen, ist erst 200 Jahre her.

Insofern haben wir jede Zeit der Welt, weil eine so epochale kontinentale Transformation weg von den Demokratien und hin zum Konsensualismus viele (Fehl-)Versuche braucht, bis es halbwegs klappt. Definiert man Anarchie als Bestrebung, hierarchische Machtausübung aufzuheben, dann ist die Schwächung der Einzelstaaten und die Stärkung des größeren Ganzen vorprogrammiert. Die EU ist niemals gefährdet und steckt dennoch in einer schmerzhaften, matriarchalischen Emanzipationsphase der Extraklasse.

Wie der große Mystiker Meister Ekkehart schon sagte: "Nur die Hand, die auslöscht, kann Neues schaffen!" Die europäische Union legt Hand an.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 06.07.2016 23:46:45

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