Sterbeangst und Lebensgier

Todesangst hat kein Mensch, weil, wenn ER da ist, sind wir schon weg. Sterbeängste werden meistens auch abgestritten... Klar, wir wünschen das Zugrundegehen so weit weg wie möglich. Alle wollen lange leben, aber niemand will alt aussehen. Von Kindheit an - ab dem Zeitpunkt, in dem wir das erste Mal von jemand endgültig Abschied nehmen - begleitet uns das ganze Leben das Thema des Alterns. Lernen wir jemand kennen, fragen wir erst nach dem Namen und gleich darauf kommt das Ratespiel nach dem Alter. Wie lange hat er oder sie noch. Du schaust ja viel jünger aus etc. Es geht nur wenigen gut dabei, sich mit der unentrinnbaren, gnadenlosen Endlichkeit abzufinden. "Nur die Härtesten kommen durch" stimmt auch nicht! Nicht einmal sie überleben. Selbst Jesus hat sterben müssen. Es trifft alle ohne Ausnahme!

Dennoch ist der Traum vom ewigen Leben nicht ausgeträumt. Möglicherweise fußen all unsere zivilisatorischen Bemühungen nur auf der Angst vorm Untergang. Da findet sich eine schöne Entsprechung zu den drei globalen Faktoren, die in den letzten zwei Jahrzehnten diese permanente Kulturrevolution bedingen: Globalisierung, neue Arbeitswelt und Werte-Reduktion. Global zu sein entspricht der Phantasie der Omnipräsenz: Du arbeitest in einem Weltkonzern, der überall ist. Du gibst ein Interview und bist im Fernsehen, bist prominent, oft zu sehen und zu hören - lebst also vielfach.

Die neue Arbeitswelt ist geprägt von einem Medium, in dem Telefonie und Computer verschmolzen sind, zu einem universellen Werkzeug. Mittels der sozialen Medien bist du multipel verbunden mit der Welt. Du fühlst Dich omnipotent. Nach dem Faustkeil, der ja auch schon ein tolles Werkzeug war, hast Du jetzt etwas in der Hand, das (fast) alles kann. Die Phantasie der Omnipotenz ist Wirklichkeit geworden. Kein Wunder, dass nicht nur die Herrenwelt dieses mächtige Ding selbst im Urlaub nicht aus der Hand geben will und ständig daran herum-rubbelt.

Wären da nicht die vielen Ansprüche aus der Umwelt: Familie, quengelnde Kinder, gebrechliche Eltern, anstrengende Vorgesetzte usw. usf. Ist doch ur-anstrengend. Also: weg damit. Als Antwort auf die Lebensgier haben wir die Werte-Reduktion erfunden. Alle mühsamen Tugenden kosten uns Lebensqualität, Lebenszeit, Lebensenergie, Lebens-Kraft. Lieber auf den Ego-Trip gehen und den ganzen Lebens-Schmutz vergessen (Schwab). Kinder ab in die Nachmittagsbetreuung, Eltern ins Heim, Partner nur noch als Lebens-Abschnitts-Begleiter. Eine echte "value-light-society" - so wie leichte Lebensmittel. Dafür aber so viel Leben wie möglich und nicht nur so viel wie nötig. Altersängste befeuern alle Arten von Lebensgier!

Wie Arno Geiger seinen senilen Vater ("Der alte König in seinem Exil";) sagen lässt: "Das Leben ist auch ohne Probleme schwer genug!" Die Jux- und Spaßgesellschaft als Antwort auf die erdrückende Gewissheit der eigenen Begrenztheit.

Der Dalai Lama meditiert täglich etwa zwei Stunden über sein persönliches Zugrunde-Gehen. Ein psychohygienisch gesunder Zugang sich den Exit millionenfach vorzustellen. Deswegen ist er ja so ein lustiges Kerlchen, das die Chinesen in die linke Westentasche wegsteckt. Er wurde kürzlich gefragt, wo er sich seine Wiedergeburt vorstelle. Er meinte, Tibet fällt weg, weil er dort nichts bewegen könne. Der deutsche Reporter fragte, ob nicht Deutschland in Frage käme. Seine Antwort: "Wenn es mir um harte Arbeit ginge, wäre Deutschland eine Option, aber meine Seele strebt mehr nach Italien..."

Ich behaupte, so ziemlich alle denken täglich an den Exitus. Aber wir reden nicht darüber, sondern schweigen diese Bürde weg. Schade und falsch! Ich bin eindeutig für larmoyantes Raunzen über die Vergänglichkeit nach Wiener Tradition. Das macht gemütlich.

3
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:12

dohle

dohle bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:12

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:12

2 Kommentare

Mehr von HILLO