Lake Marie – Standing by Peaceful Waters? Ein Song und seine Geschichte.

Es gibt, wie wir wissen, sehr viele Lieder über die Marias, Marys und Maries dieser Welt. Aber es gibt nur ein Lied über einen See, der Maria heißt. Und um dieses Lied geht es in diesem Blog, um „Lake Marie“.

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Wenn man in CHICAGO auf dem Chicago O‘Hare International Airport landet, von woher auch immer, sich kurz bewusst macht, dass man auf dem größten Flughafen der Welt ist, jedenfalls was die Zahl der Flugbewegungen betrifft, und sich dann ein Taxi nimmt, ist man in gut 20 Minuten in MAYWOOD, einem Vorort etwa 16 km südlich von Chicago. MAYWOOD, dies sei der Orientierung halber erwähnt, befindet sich im Staat ILLINOIS im mittleren Westen der USA, am Ufer des Michigansees. Selbiges gilt selbstverständlich auch für Chicago. Von MAYWOOD aus geht es nun über die Interstate 294 etwa 100 km nördlich, wo nach knapp 90 Minuten die kleine Ortschaft TWIN LAKES an der Grenze ILLINOIS-WISCONSIN erreicht wird. Endlich ist es Zeit für eine Erholungspause. Grund genug also, sich an einem der beiden Seen, dem schöneren LAKE ELISABETH oder dem kleineren, etwas versteckt von der Autobahn gelegenen LAKE MARIE zu entspannen, vielleicht auch einige italienische Würstchen auf dem Grill im Freien zu genießen.

In dem gut 23.000 Seelen-Vorort MAYWOOD sind neben zahlreichen Basketballspielern auch Charles Lindbergh, der ja ebenfalls immer hoch hinaus wollte, geboren. Da es sich hier jedoch weder um einen Sport- noch um einen Fliegerblog handelt, muss es noch mehr bekannte Söhne der Stadt geben. In der Tat, einer davon ist JOHN PRINE, ein US-amerikanischer Country-Sänger und Songschreiber.

Dieser JOHN PRINE hat einen Song über jenen See namens Marie geschrieben, der gut 100 km nördlich seiner Heimatstadt liegt, an der Grenze von Illinois zu Wisconsin und heutzutage „Lake Mary“ genannt wird.

„Lake Marie“ ist eines der besten Lieder dieses Künstlers, wenn nicht sein bestes. Ja, eines der besten Songs überhaupt!

JOHN PRINE. WER IST JOHN PRINE?

Am 10. Oktober 1946 wurde John Prine in Maywood (Illinois) geboren. Sein Vater war ein großer Country-Fan, und so lernte Prine schon früh die alten Songs von der CARTER FAMILY, HANK WILLIAMS oder JOHNNY CASH kennen. Er war einige Jahre als Postbote tätig und überlegte sich Texte für seine ersten Lieder, während er die Briefe in den Kästen verteilte. Nach einem zweijährigen Wehrdienst während des Vietnamkrieges in Deutschland begann er Ende der 1960er Jahre mit Auftritten als Folksänger in Chicago. KRIS KRISTOFFERSON verschaffte ihm schließlich einen Plattenvertrag bei Atlantic-Records, doch ein halbwegs erfolgreiches Album gelang ihm erst 1975. 1981 gründete er sein eigenes Label OH BOY RECORDS.

1995 veröffentlichte er das Album „Lost Dogs and Mixed Blessings“, auf dem auch der Titel „Lake Marie“ enthalten ist.

Prine erkrankte 1997 an Krebs, wobei ihm ein Teil des Halses wegoperiert werden musste. 2013 wurde bei ihm auch noch ein Lungenkrebs diagnostiziert. Seine Stimme ist seitdem nicht mit der früheren vergleichbar, sie ist tiefer geworden, passt damit aber wenigstens sehr gut zum „Alterswerk“ dieses Ausnahmekünstlers. Denn damit reiht er sich ein in die Liste derjenigen Künstler, die im Alter ein noch weitaus größeres stimmliches Ausdrucksvermögen erlangt haben. Man denke an LEONARD COHEN, JOHNNY CASH oder BOB DYLAN...

Prine gewann zahlreiche Preise. Er wurde in die Nashville Music Hall of Fame aufgenommen und bekam zwei Grammys. Obwohl wohnhaft in Nashville, trat er in den letzten Jahren weniger als klassischer Countrysänger, sondern immer mehr als Songwriter hervor, der Geschichten mit einer gehörigen Portion Humor, Hintersinn und Ironie erzählen kann, wobei er auch nicht mit Kritik an der amerikanischen Politik spart. Obwohl ihm kein wirklicher kommerzieller Durchbruch gelang, gilt Prine als einer der einflussreichsten Songwriter in der Folk- und Countrymusik. Unter seinen Musikerkollegen genießt er hohes Ansehen.

2020 erkrankte Prine mit 73 Jahren an COVID-19 und verstarb daran am 7. April 2020.

„LOUIE LOUIE“

Dieser Blog handelt von einem einzigen Song: „Lake Marie“. Nun ja, nicht ganz. In dem Song wird ein weiteres Lied zitiert, das ab Ende der 1950er Jahre in den USA äußerst populär war: „Louie Louie“. Angeblich soll es etwa 1500 Coverversionen davon geben. RICHARD BERRY hat das Lied 1955 geschrieben. Als THE KINGSMEN es 1963 herausbrachten, ging das Lied durch die Decke...

Als Einstimmung auf die Zeit, in der die Erzählung über den „Lake Marie“ spielt, sei hier das Original von RICHARD BERRY & THE PHARAOS vorgestellt. Es kam 1957 als Rückseite einer Single heraus:

„LAKE MARIE“

Doch nun zum Song: „Lake Marie“.

Es lohnt sich, sich genauer mit dem Text zu beschäftigen, den Hintergründen und Gedanken des Songwriters nachzuspüren („The Story Behind the Song“)und einige unterschiedliche musikalische Fassungen zu vergleichen.

Der Text von „Lake Marie“ gibt Anlass für reichlich Spekulationen. Es wird nichteindeutig klar, was der Erzähler des Songs letztlich damit sagen will. Aber gerade eine solche Mehrdeutigkeit zeichnet ja alle bedeutenden Werke in der Kunst aus, ob es sich dabei um Gemälde (man denke nur an das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa) oder um Musikstücke handelt. Komplexität oder auch nur einfach eine gewisse Ungewissheit machen Musikstücke ja erst interessant, weil dies eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Werk ermöglicht.

„Lake Marie“ fordert den Hörer heraus, sich Gedanken über den Inhalt zu machen. Bei jedem erneuten Hören des Stückes kann der Schleier ein wenig mehr gelüftet werden – oder aber es entstehen neue Fragen und Vermutungen. Es bleibt in jedem Fall spannend. Auch im Netz findet eine rege Diskussion über „Lake Marie“ statt mit zahlreichen oft gegensätzlichen Textinterpretationen.

„Lake Marie“ ist auch musikalisch interessant, schon allein durch die stimmliche Darbietung in Form eines Sprechgesangs, der in Kombination mit einem langsamen Shuffle-Rhythmus für einen wohligen, entspannten „Groove“ sorgt. Die „gefällige“ Harmonik des Chorus und die Rhythmik können zu dem Wunsch führen, das Stück möge „endlos“ weitergehen. Man kennt diesen Effekt natürlich von allen „Hits“. So aber auch bei manchen DYLAN-Stücken, z.B. das über 11-minütige „Desolation Row“ (HIGHWAY 61 REVISITED, 1965) oder das über 16-minütige musikalisch äußerst karge „Highlands“ (TIME OUT OF MIND,1997), das man einfach nicht leid wird, wenn man sich erst einmal in den Rhythmus hinein“gegrooved“ hat. [1]

„Lake Marie“ hört nach der letzten Strophe und dem Chorus nicht auf, sondern endet mit einem längeren Instrumentalteil, so dass man die soeben gehörte Erzählung nochmals nachwirken lassen kann. Bei Live-Aufnahmen steigert sich die Musik meist in ein Gitarrensolo hinein und gibt dadurch dem Stück zum Abschluss noch eine besondere musikalische Qualität.

Hören wir also zunächst „Lake Marie“ in seiner ursprünglichen Erstfassung von dem Album „Lost Dogs and Mixed Blessings“, das 12. Studioalbum von Prine aus dem Jahr 1995:

Anmerkung: Die sorgfältig ausgewählten Musikbeispiele sind in chronolgischer Reihenfolge angeordnet und umfassen eine Zeitspanne von 25 Jahren, von 1995 bis 2020.

„WE WERE STANDING – STANDING BY PEACEFUl WATERS"

Wer das Lied zum ersten Mal hört, dem mag auffallen, dass der Sänger bestimmte Worte lautmalerisch betont: „sssssssizzlin“, „some sssssharp object“, „Ahhhhh Baby“, „Shadows!“. An einer Stelle wird kräftig gereimt: „barking“, „parking“, sharking“, „narcing“. Die drei Strophen werden eher gesprochen als gesungen. Eine Art Talking Blues also, wie wir ihn von BOB DYLAN (z.B. „Talkin’ New York Blues", 1962) oder hierzulande vom frühen HANNES WADER (z.B.„Der Tankerkönig“, 1972) kennen. [2]

Die Akkorde des Stückes gehen sofort ins Ohr. Kein Wunder, basiert „Lake Marie“ doch wie sehr viele andere Lieder auf dem Bluesschema, hier auf der Akkordfolge G – C – D, womit die 1., 4. und 5. Stufe der Tonleiter und damit Tonika, Subdominante und Dominante für eine eingängige, allzu bekannte Wohlfühl-Harmonie sorgen. Der recht langsame Rhythmus verführt zum Mitschaukeln und erhöht damit das angenehme Musikerlebnis.

Inhaltlich geht es um gänzlich unterschiedliche Themen, deren Verknüpfung nicht immer ersichtlich wird. Der Sänger erzählt zunächst vom geschichtlichen Hintergrund zweier Seen, wobei es sich vermutlich eher um eine Art Legende handelt, danach von einer Liebesgeschichte, einer zerrütteten Ehe und schließlich von einem Doppelmord. Im Refrain ist von einem friedlichem Gewässser („Peaceful Waters“) die Rede.

Aber so friedlich ist es am Ufer von Lake Marie doch gar nicht. Wie passt das alles zusammen?

Hören wir eine zweite Fassung des Songs. Diesmal eine Live-Version von 1997, zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung. Hier zeigt sich bereits, das Prine nicht mehr typische Countrymusik macht, sondern sehr rockig unterwegs ist. Die Aufnahme ist auf dem Album „Live on Tour“ zu finden.

„THEY FOUND TWO BABIES IN THE WOODS“

1. Strophe:

Many years ago along the Illinois-Wisconsin border

There was this Indian tribe

They found two babies in the woods

White babies

One of them was named Elizabeth

She was the fairer of the two

While the smaller and more fragile one was named Marie

Having never seen white girls before

And living on the two lakes known as the Twin Lakes

They named the larger and more beautiful Lake, Lake Elizabeth

And thus the smaller lake that was hidden from the highway

Became known forever as Lake Marie

Chorus:

We were standing

Standing by peaceful waters

Standing by peaceful waters

Whoa Wah Oh Wha Oh

Whoa Wah Oh Wha Oh

In der ersten Strophe erfahren wir, dass es an der Grenze zwischen Illinois und Wisconsin zwei Seen gibt, die ihre Namen von zwei Babies, „white Babies“, erhalten haben. Die Geschwister wurden vor unbestimmter Zeit von einem Indianerstamm (damals durfte man noch von Indianern sprechen...) in den umliegenden Wäldern aufgefunden. Der größere und schönere See wurde nach dem schöneren Mädchen Elizabeth benannt, während der kleinere See, der etwas versteckt von der Autobahn liegt, seinen Namen von dem kleineren,weniger hübschen und zierlicheren Mädchen Marie erhielt.

Prine schreibt hierzu, dass er schon länger auf der Suche nach einem neuen Song war. Dies sei für ihn eine Art Detektivarbeit gewesen, ein langer, mühsamer Prozess. Der Song sollte etwas Geschichtliches, aber auch Biografisches enthalten, seiner Vorliebe für gesprochene Texte entsprechen und einen guten Refrain haben. Als er ein Konzert in der Nähe des Lake Marie gab, wurde er in der Bücherei des nahegelegenen Ortes TWIN LAKES fündig und erfuhr von der Legende um die Namensgebung der beiden Seen.

Unklar bleibt, woher die Indianer die Namen der beiden Mädchen wussten.

Tatsache ist hingegen, dass es die beiden Seen tatsächlich gibt.

An dieser Stelle sollten wir uns eine weitere Fassung des Liedes, ebenfalls aus dem jähr 1997, anhören. Und ansehen, denn hier ist das Live-Konzert auch gefilmt worden. Das Stück dauert 8:12, wobei ab 5:55 ein schönes Gitarrensolo einsetzt.

Übrigens: Der etwas füllige Mann mit Brille, braunem Jackett und lockigen Haaren hätte ich sein mögen...

„AAH BABY, WE GOTTA GO KNOW“

2. Strophe:

Many years later I found myself talking to this girl

Who was standing there with her back turned to Lake Marie

The wind was blowing especially through her hair

There was four italian sausages cooking on the outdoor grill

And they were sizzlin‘

Many years later we found ourselves in Canada

Trying to save our marriage and perhaps catch a few fish

Whatever seemed easier

That night she fell asleep in my arms

Humming the tune to "Louie Louie“

Aah baby, we gotta go now

Chorus:

We were standing

Standing by peaceful waters

Standing by peaceful waters

Whoa Wah Oh Wha Oh

Whoa Wah Oh Wha Oh

Der Erzähler denkt daran, wie er einst seine zukünftige Ehefrau am Lake Marie getroffen hat. Die Erinnerungen an dieses emotionale Ereignis werden wieder wach: Er sieht sie vor sich, mit dem Rücken zum See. Der Wind weht durch ihr Haar und die italienischen Würstchen – eine Leidenschaft von jedem „echten“ Chicagoer – bruzzzzzeln auf dem Grill.

Prine berichtet, dass dieser Teil des Liedes autobiografisch sei. Er sei, wie viele seiner Gleichaltrigen, in der Jugend oft am Wochenende mit Freunden oder später auch mit der Freundin raus an den See gefahren, zum Picknicken, Grillen und zum Baseballspielen.

Doch dann bekommt die harmonische Stimmung in dem Lied einen ersten Riss.

Jahre später sind die beiden, inzwischen verheiratet, in Kanada, um ihre Ehe zu retten. Hier kommt Prines feiner Humor zum Ausdruck: Sie seien in Kanada, um ihre Ehe zu retten und um Fische zu fangen – was auch immer eher gelingt oder einfacher scheint. Und dann wird es noch einmal richtig romantisch: In dieser Nacht, wo nicht klar wird, ob sie nun Fische gefangen oder die Ehegerettet haben, schläft sie in seinen Armen ein, das Lied „Louie Louie“ auf den Lippen. Der Erzähler gibt sich ganz seinen Emotionen hin: „Aaaaaaah Baby“!

Doch was bedeutet der Nachsatz: „We gotta go now“? Warum sollen die beiden ausgerechnet in dem Moment , wo sie in seinen Armen liegt, gehen? Und wohin?

Das Datum des nächsten Live-Auftritts konnte nicht ermittelt werden. Es dürfte sich um Anfang der 2000er Jahre handeln. Ab 6:09 gibt es ein Finale mit einem fantastischen Gitarrensolo:

„YOU KNOW WHAT BLOOD LOOKS LIKE IN A BLACK AND WHITE VIDEO?“

3. Strophe:

The dogs were barking as the cars were parking

The loan sharks were sharking, the narcs were narcing

Practically everyone was there

In the parking lot by the forest preserve

The police had found two bodies

Nay, naked bodies

Their faces had been horribly disfigured by some sharp object

Saw it on the news, the TV news, in a black and white video

You know what blood looks like in a black and white video?

Shadows, Shadows!

That's exactly what it looks like

All the love we shared between her and me was slammed

Slammed up against the banks of Old Lake Marie

Marie!

Chorus:

We were standing

Standing by peaceful waters

Standing by peaceful waters

Whoa Wah Oh Wha Oh

Whoa Wah Oh Wha Oh

Aah baby, we gotta go now

Die 3. Strophe beginnt mit einer weiteren humorvollen „Einlage“: Prine reimt „barking“ auf „parking“ auf „sharking“ auf „narcing“. Hunde, Autos, Kredithaie und Drogenfahnder machen also ihr Ding. Dann aber kippt die Stimmung in dem Song komplett. Ein Doppelmord ist geschehen. Die Polizei hat zwei nackte Körper gefunden, deren Gesichter von einem scharfen Gegenstand grausam zugerichtet wurden. Der Erzähler war nicht vor Ort, sondern hat es im Fernsehen gesehen. In Schwarzweiß. Und er fragt die Zuhörer, ob sie wüssten, wie Blut in einem Schwarzweiß-Film aussieht. Wie Schatten, ruft er zweimal mit deutlicher Betonung. Im gleichen Atemzug kommt der Erzähler wieder auf die zerronnene Liebe zu seinem Mädchen zurück: All die Liebe, die die beiden sich gegenseitig gegeben hatten, sei zerschmettert an den Ufern von Lake Marie. Der Text endet mit zwei Ausrufen: „Marie!“ und „Ah Baby, we gotta go now!“.

A SHARP LEFT TURN

In der 3. Strophe erfolgt das, was Prine „a sharp left turn“ nennt. Wörtlich übersetzt: eine scharfe Linkskurve. Gemeint ist, dass das Thema plötzlich einen völlig anderen Verlauf nimmt. Gerade noch, am Ende der zweiten Strophe, wird eine der romantischsten Situationen für ein Ehepaar geschildert: Sie schläft in seinen Armen ein. Und dann passiert in der dritten Strophe ein grausamer Doppelmord. Oder unmittelbarer: Gerade noch zeigt Prine mit seinen Reimwörtern Sinn für Unsinn, da wird es in der nächsten Zeile todernst.

Auch hier kommt wieder etwas Biografisches zum Vorschein: Prine erinnert sich, dass Ende der 1950er Jahre in den Vororten von Chicago, wo er aufwuchs, zahlreiche Morde geschahen, die für große Aufregung sorgten.

Über die beiden Morde bleiben eine Reihe Fragen offen:

Hat der Erzähler etwas mit dem Doppelmord zu tun?

Wer sind die beiden Leichen? Ist eine davon die Frau/Ex-Frau des Erzählers? Oder sind es die Ex-Frau und ihr neuer Liebhaber, ermordet gar vom Erzähler?

Wo geschah der Doppelmord? Am Lake Marie?

Wann geschah die Tat? War der Erzähler noch in Kanada? War die Ehe inzwischen zerbrochen?

Und warum kommt der Erzähler am Schluss wieder auf seine zerbrochene Liebe zurück?

Was hat der Ausruf: „Marie!“ zu bedeuten? Oftmals ist so ein Ausruf in einem Lied nur ein Füllwort, einfach so vor sich hingesungen. Nicht aber in einem Lied wie diesem.

Heißt seine Ex-Frau vielleicht auch Marie? Oder klagt der Erzähler den See für sein Schicksal an?

Und warum kommt ganz zum Schluss ein zweites Mal die Aufforderung: „We gotta go now?“ Könnte es sein, dass dieser Ausruf vielleicht die noch größere Wendung, der „more sharper left turn“, in diesem Lied ist? Größer als der grausame Doppelmord? Der eigentliche Schlüsselsatz in dem ganzen Lied? Bedeutet er vielleicht, dass wir alle irgendwann gehen müssen, von dieser Erde gehen müssen? Wie es HANK WILLIAMS, der tragische Held der Countrymusik,einmal gesungen hat: „I‘ll Never Get out of This World Alive“. Oder auch wie es JIM MORRISON von den DOORS formuliert hat: „No One Here Gets Out Alive“.

„SHADOWS!“

Was soll die Frage des Erzählers, wie Blut in einem Schwarzweiß-Videoaussieht? Und warum ruft er die Antwort zweimal laut heraus? Klingt da etwa Verachtung mit? Verachtung über die Medien in der heutigen Zeit, durch die all die Gräueltaten der Welt relativiert werden, weil sie von den Menschen nur noch über die Mattscheibe, damals nur in Schwarzweiß, wahrgenommen werden? Wo Blut, der Saft des Lebens, nur noch als Schatten gesehen wird? So harmlos, dass ein grausamer Mord die Menschen nicht mehr innerlich berühren kann?

Vielleicht will John Prine in diesem Song ganz einfach Gegensätze des Lebens aufzeigen: Liebe und Schönheit auf der einen und die dunklen Seiten auf der anderen. Oder präziser: Der Kontrast zwischen FRÜHER (Hilfsbereitschaft, Empathie und Fürsorge durch die Indianer am Beispiel der beiden Waisenkinder, friedliche Gewässer) und HEUTE (zerbrochene Liebe, Scheidung, Morde an den Gewässern). Der Satz „Standing by Peaceful Waters“ aus dem Refrain steht im krassen Gegensatz zum Schluss des Liedes, wo die Liebe der beiden an den nun gar nicht mehr friedlichen Ufern des Lake Marie zerschellt.

John Prine soll über sein Lied gesagt haben: „I guess the point of the song is that if the Indians had‘nt named the lakes after a couple of white girls, they would still be peaceful waters“ [3].

Die Seen wären also immer noch friedliche Gewässer, wenn die Indianer sie nicht nach den weißen Babies benannt hätten. Wer hat nun „Schuld“? Die Indianer oder die Weißen, die die Babies dort ausgesetzt haben?

Die Fragen hören nimmer auf. Grund genug also, sich immer wieder den Song anzuhören...

Hier eine Live-Fassung von „Lake Marie“ in bester Aufnahmequalität aus dem Jahr 2018:

Eine der meiner Meinung nach besten Live-Fassungen von „Lake Marie“ gibt es nicht auf YT. Da muss man sich schon um die CD selbst bemühen... („An Irish Pipedream“, ein Livekonzert vom 11.11.2005 aus Ennis, Irland)

Aber dafür gibt es auf YT ein Video eines seiner letzten Konzerte in Oslo, wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 2020. Ein sehr bewegender Auftritt, bei dem John das Lied im Sitzen vorträgt und kaum noch Gitarre spielt. Dafür erzählt er den Text gut gelaunt und mit viel Gestik und dadurch um so ergreifender. Am Schluss spricht er seine frühere Geliebte an: „Wake up Little Susie“ und „Let‘s twist again, like we do last summer“ (Auch hier gibt es wieder eine Parallele zu BOB DYLAN, dessen letztes Album „Rough And Rowdy Ways“ voll ist mit dem Aufzählen von Musiktiteln).

Und der Erzähler spricht weiter mit seiner früheren Frau: „You look so pretty when you smile“.

Der Song endet mit der Aufforderung: „Baby, we got a go now – Take my Hand“ ...

Zum Schluss zwei Anmerkungen:

(1) John Prine hätte heute, am 10. Oktober 2022, seinen 76. Geburtstag gefeiert. Es war mir eine Ehre, am heutigen Tag an diesen großen Künstler zu erinnern.

(2) Bob Dylan, der gestern seine einwöchige Deutschlandtournee nach 6 Konzerten beendet hat, nennt in einem Interview neben GORDON

LIGHTFOOT, RANDY NEWMAN, WARREN ZEVON und GUY CLARK auch JOHN PRINE als einen seiner liebsten Songwriter [4].

Wundert es jemanden, dass DYLAN, gefragt nach seinem Lieblingslied von Prine, geantwortet hat: „Lake Marie“?

[1]

BOB DYLAN, „Desolation Row“, Highway 61 Revisited, 1965 https://youtu.be/hUvcWXTIjcU

BOB DYLAN, „Highlands“, Time Out of Mind, 1997

https://youtu.be/BxDU9Q2RDBc

[2]

BOB DYLAN, „Talkin’ New York“, Bob Dylan, 1962

https://youtu.be/rxIJnZQmTt4

HANNES WADER, „Der Tankerkönig“, 7 Lieder, 1972

https://youtu.be/kaNVqhuiZK0

[3]

JOHN PRINE über den Sinn von „Lake Marie“:

http://www.chimesfreedom.com/2015/07/31/standing-by-peaceful-watersjohn-prine-the-story-of-lake-marie/#comments

http://www.jpshrine.org/biography/frainbio.htm

[4]

BOB DYLAN im Interview 2009 über sein Lieblingslied von John Prine: https://alldylan.com/the-best-songs-lake-marie-by-john-prine/

Weitere Quellen:

• https://medium.com/@madlab/john-prines-lake-marie-is-perhaps-the-mostliterary-song-i-can-name-and-i-can-name-more-than-a-f867ffaebe55

• https://mark-guarino.com/john-prine-on-his-song-qlake-marieq/

• SZ: Interview mit John Prine (2020):

https://sz-magazin.sueddeutsche.de/sz-diskothek/john-prine-interviewjohnny-cash-87682

• faz.net: Zum Tode von John Prine:

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/zum-tod-des-amerikanischenliedermachers-john-prine-16717812.html

Fotonachweise:

• Albumtitel „The Tree of Forgiveness“:

https://en.wikipedia.org/wiki/The_Tree_of_Forgiveness

• Fotos vom Lake Mary:

https://www.google.com/maps/place/Lake+Mary/@42.510332,-88.2863755,13.52z/data=!4m5!3m4!1s0x880f7def55d27feb:0x5e579ededb559d2f!8m2!3d42.5254388!4d88.2534192

• Geografische Karte vom Lake Mary: https://www.google.com/maps/search/Lake+Mary+Illinois+Wisconsin+border/@42.5092821,-88.2862794,14z/data=!3m1!4b1

• Foto: Verkehrszeichen: Sehr scharfe Linkskurve: https://de.wikipedia.org/wiki/Bildtafel_der_Verkehrszeichen_in_den_Vereinigten_Staaten

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