Aus gegebenem Anlass denken derzeit viele zurück an das NS-Regime und seine Untaten. Der Versuch, die ewige Wiederhoung der Geschichte aufzuhalten, indem man getreu dem Motto "never forget, never again" jedes Kind über die Gräuel der Nazizeit belehrt und sie mit dem Gefühl von "na, wie konnten die Menschen damals nur" in den Schulbänken zurücklässt, scheint jedoch gerade zu scheitern. Vielleicht weil über die Schilderung des Horrors, die Alltäglichkeit der Fassade zu wenig in Erinnerung gerufen wird.

Eine der bezeichnendsten Antworten, die ich bezüglich Herrn Hofers neofaschistischen Tendenzen hier bekommen habe, war "der wird schon nicht Mauthausen wieder aufsperren, das wäre dann schon rechtsextrem". So als würde Rechtsextremismus erst beginnen, wenn schon der Rauch aus den Schornsteinen hochgeht.

Ich hatte das Glück mit einem Vater aufzuwachsen, der diese Zeit als Kind erlebt hat und auch viel darüber gesprochen hat. Ich hatte also meinen eigenen Zeitzeugen daheim und kannte nicht nur KZ Bilder aus den Schulen, sondern auch einfach die viel viel alltäglicheren Geschichten meines Vaters.

Damals war es etwa üblich, dass Zigaretten Sammelbildchen für Kinder beilagen (weil die ja für die Eltern Tschick kaufen gegangen sind). Als die Nazis den Anschluss vollzogen hatten, gabs zu den Tschick Sammelbildchen der Dollfussmörder. Am seltensten und begehrtesten war der, der das Messer geführt hat. Die wurden als große Helden und Befreier propagiert.

Mein Vater erinnert sich auch, wie sie als Kinder in der Schule der Hitlerbüste in der Aula auf den Kopf gespuckt haben, bis dann irgendein erboster Direktor ausgezuckt ist.

Er erzählt auch von kindlichen Missverständnissen, wie er sich immer dachte, der arme Hitler, jetzt muss der gegen den bösen Kriegsverbrecher Churchill (aus der Zeitung) und den bösen Kriegsverbrecher Tschörtschill (aus dem Radio) kämpfen.

Er erzählt davon, wie er schon ein wenig traurig war, dass seine Eltern ihn nicht zur HJ gehen lassen wollten (und die ihn auch nicht so wollten weil er klein und eher dick war). Die hatten halt so coole Taschenmesser.

Und das mit den Juden? Eigentlich hat er gewusst, dass meine Großmutter und die Nachbarin Frau Goldblatt sich immer sehr gemocht haben. Die wird der Hitler schon nicht meinen, warum hätte denn die Frau Goldblatt irgendwem einen Dolch in den Rücken stechen sollen? Weg war sie dann doch irgendwann. Gezogen in die Stadt, die der Führer "den Juden geschenkt hatte" (so stand es in der Zeitung), wo sie dann leider an "Lungenentzündung" gestorben ist. Er hat damals auch nicht ganz verstanden, warum Frau Goldblatt alles zurück gelassen hat und warum meine Großmutter in ihre Wohnung eingebrochen ist und alle Wertgegenstände mit genommen hat.

Das hat er dann erst nach dem Krieg verstanden. Als jeder das wahre Ausmaß des Horrors in Theresienstadt und den anderen Lagern kannte. Als er mit meiner Großmutter nach Paris gefahren ist, damit sie die Wertsachen endlich an Frau Goldblatts Familie übergeben konnte.

Meine Großeltern haben nicht versucht, meinem Vater als Kind seinen kindlichen Glauben an die Nazipropaganda auszureden. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, dass er in der Schule etwas sagt, dass die ganze Familie in Lebensgefahr bringen kann. Das er selbst auch jüdische Verwandte hatte, die zum Teil ermordet wurden und zum Teil in die USA geflohen sind, hat er erst nach dem Krieg erfahren. Seit dem ist mein Vater ein sehr bedachter Mensch, der niemandem so leicht etwas glaubt und sehr schnell skeptisch wird, wenn jemand mit Heilsversprechen ankommt.

Es wird niemanden überraschen, dass er Van der Bellen gewählt hat im zweiten Wahlgang, obwohl er in seinem Leben noch nie die Grünen gewählt hat.

Die Nazis haben in ihrer Propaganda sehr geschickt gearbeitet. Sie haben freie Wahlen gewonnen und danach auf sie gepfiffen. Sie haben die Deutschen bis zum Schluss als die ewig reinen Opfer hochstilisiert und die Juden als für alle möglichen nur erdenklichen Probleme verantwortlich gemacht. Und dabei haben sie schnittig ausgesehen und für jeden einen aufmunternde Parole parat gehabt.

Die Paralellen zu dem was heute, hier, in vielen anderen Ländern Europas, in der Türkei, in Russland und auch in den USA passiert, sind offensichtlich. Und wir täten gut daran uns nicht allein an den Horror sondern auch daran zu erinnern, wie alltäglich und normal die Fassade des Irrsinns damals ausgesehen hat, wenn wir ihr heute wieder in das freundlich lächelnde Gesicht blicken.

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