Eine Betrachtung zu Weihnachten

Das Fest ist gefeiert. Das Lametta ist verworfen. Es bleiben Müll und Gedanken. Weihnachten, einmal abstrahiert von all dem verkünstelten Kitsch, ist auch ein Tag der Emanzipation, nicht des Menschen zu Gott oder Gottes zu den Menschen, sondern des Menschen zu den Menschen.

Um den heutigen – gedanklichen und begrifflichen – Zustand der Welt zu schaffen, mussten zwei Prozesse aufeinanderzulaufen, und man kann den heutigen Umbruchszustand auch verstehen als ein Zuschlagen der Türen zu alten Befindlichkeiten und ein Spüren des allerersten Hauchs einer ganz neuen Atmosphäre. Die eine Linie ist die Emanzipation, die andere die Demokratie, beide haben eine gleiche Gegenseite, die aufzubrechen war, die Hierarchie.

Jesus, der Held von Weihnachten, wurde, wie sein Vorgänger Mose, durch einen flächendeckenden Knabenmord bedroht. Man stellte sich die menschliche Fortpflanzung sozusagen nach ihrem äußerlichen und sichtbaren Teil männlich dominiert vor und glaubte bis in die Neuzeit, dass man ein Volk dezimieren oder sogar ermorden kann, wenn man die Männer tötet. Frauen galten bis in die Renaissance hinein als bloße Gefäße der Virilität, nicht als ihr ebenbürtiges Gegenstück oder noch besser gleichartiges Komplementär.

Nachträglich lässt sich leicht spotten: es ist umgekehrt, mit einem Mann kann man tausend Kinder zeugen, wenn man tausend Frauen hat, aber mit tausend Männern kann man nur ein Kind zeugen, wenn man nur eine Frau hat. Indessen wissen wir, dass Völker ohnehin keine konstanten Größen sind. Es gibt keine nationalen Eigenschaften, die Wertigkeiten abbilden würden. Neunundneunzig Prozent des genetischen Materials des Menschen sind identisch, nur ein Prozent zeigt sich als individuelle Besonderheit. Wo ist der Todesmut der Hunnen oder Mongolen anders als im Grab, wo er hingehört. Erfolg ist genauso flüchtig wie Misserfolg. Alle großen Reiche brachen sich an ihrer eigenen Hybris. Während ihrer Existenz aber verweisen sie immer auf Quantitäten, wie zum Beispiel EIN SECHSTEL DER ERDE oder WELTRELIGION, weil es Qualitäten nicht gibt. Religionen und Ideologien verbreiten sich demografisch und nicht nach dem Wahrheitsgehalt. Wahre Multikulturalität widersetzt sich der Dominanz, sonst wäre es keine Multikulturalität, sondern Hierarchie. Jugoslawien ist nicht am Zusammenleben der Völker oder Religionen gescheitert, sondern an der immer wieder durchgesetzten und zuletzt implodierten Dominanz der Serben. Übrigens widersetzt sich jeder der Dominanz, und sei es durch Lethargie oder ihre Steigerung, den Tod.

Die Frau musste sich, so merkwürdig uns das heute vorkommen mag, in einem vieltausendjährigen Prozess emanzipieren. Viele Berufe, die früher Frauen verboten waren, sond heute sogar typisch, so gibt es in Westeuropa viele Lehrerinnen, Ärztinnen, Richterinnen. Die oberste Richterin der Welt ist eine schwarze Frau. Die Schwarzen, überhaupt die colored nations, deren gewitzteste Vertreter zurecht darauf verweisen, dass ihre Farbe weitaus konstanter ist als unsere, die wir erröten und erblassen, müssen an vielen Orten der Welt immer noch um ihre Anerkennung fürchten, werden diskriminiert oder schlecht behandelt. Im Gegenzug glauben viele Europäer und weiße Nordamerikaner, dass sie persönlich das Automobil erfunden hätten, weil sie weiß sind. Die neuesten fremdenfeindlichen Parteien behaupten, dass sie nicht gegen die Fremden sind, sondern gegen deren Religion.

Erst im neunzehnten Jahrhundert, in der Folge der Aufklärung konnte sich das Individuum als eigenständige Rechengröße durchsetzen. Bis dahin hat man Menschen nur als Angehörige von hierarchisch geordneten Gruppen wahrgenommen. Die theoretischen Höhepunkte dieser schädlichen und falschen Ansichten von den Rassen, Klassen, Nationen und Glaubensgemeinschaften lagen im neunzehnten Jahrhundert, praktisch wurden sie alle in den Weltkriegen falsifiziert. Im neunzehnten Jahrhundert entstand aber auch durch Industrialisierung und Romantik gleichermaßen die neue Welt des universellen permanenten Narrativs, der Erzählung, die alle Menschen jederzeit und überall umfasst. Es ist eine Erzählung mit unendlich vielen seriellen Fortsetzungen. Das Smartphone ist sein Vehikel.

Die Emanzipation des Schwarzen wurde schon erahnt und gekoppelt mit der Emanzipation des Kindes durch das Auftreten der drei Könige aus dem Morgenland, deren einer vielleicht aus dem heutigen Äthiopien, dem damaligen Reich Axum kam. An der Bezeichnung und an ihrem Verbleib in Köln kann man schon die Verwirrung ablesen: auch Jesus wurde im Morgenland geboren, die Könige kamen vielleicht eher aus dem Süden. Merkwürdigerweise werden solche Botschaften auch gerne vergessen. Der schwarze König wurde so gründlich vergessen, dass man heute dem erstaunten Flüchtling erklären muss: ja, wir kennen euch schon lange, die Botschaft von euch war schon lange vor euch da. Zwischen der alten Kenntnis und heute lagen schwarze Zeitalter.

Die drei Könige als Metapher für den Fremden, für den Migranten, ist die verschüttete Botschaft, obwohl in Italien und im Rheinland die Kinder sich die Gesichter schwärzen wie ein Othello, wenn sie am Tag der drei Könige um Geld und Güte singen.

Andererseits hat die Abwehr des Fremden auch gar nichts mit der Hautfarbe oder überhaupt mit der Herkunft zu tun. Als Ende 1944 und im ersten Halbjahr 1945 vielleicht zehn Millionen Deutsche aus den verlorenen Ostgebieten und aus Angst vor den jahrelang als Angstgespenst aufgebauten Russen flohen, wurden sie in Mittel- und Westdeutschland nicht freundlich aufgenommen. Der absurdeste Vorwurf war die Migration selbst. Allerdings haben die Geflohenen auch ihre Vertreibung kultiviert und natürlich nicht ihre Mitschuld. Das oder der Fremde wird auch dann abgelehnt, wenn es der eigene Verwandte ist, wie man übrigens auch auf jeder größeren Familienfeier beaobachten kann.

Das alles habe ich am gestrigen Abend gedacht, als ich wieder einmal auf einem wackligen Stuhl (‚ach hier sind unsere Milliarden‘) im Asylbewerberheim saß. Die Konstellation, auf die man trifft, ist immer eine andere, mal ist der da, mal jener. Und gestern war dieser eine da, der mir schon lange seine Geschichte erzählen wollte. Es war eine Geschichte von seiner Familie, an die er immer denken muss, die aber auch nur mit ihm eine Chance hat, von Gefängnis, Soldaten, Handschellen, Flucht, Diskriminierung, Unverständnis. Dieser Flüchtling spricht immer sehr leise und eindringlich. Aber das kommunikative Rauschen des Weltnarrativs war in diesem mehr als fragilen Refugium ein Smartphone, das auf dem zum Tisch umfunktionierten Regal und und deutsche Unterhaltungsmusik reproduzierte, und ein Uraltfernsehgerät, das einen deutschen höchst fragwürdigen, verkitschten Liebesfilm in beträchtlicher Lautstärke anbot, den keiner wollte und der doch seinen Sinn hatte. Das war die Stunde dieser Geschichte. So wird diese Geschichte in das große Narrativ eingehen. Nie werde ich die sudanesischen Soldaten mit ihren Handschellen vergessen, die ein neunzehnjähriges Mädchen ins Gefängnis warfen, aus dem sie erst das Geld aus Deutschland befreien konnte.

Vielleicht ist es diesem Jahrhundert vorbehalten gewesen, den Fremden zu emanzipieren.

26.12.2016

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sisterect

sisterect bewertete diesen Eintrag 26.12.2016 13:17:47

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