Die Wanderkarte – meine liebste Reiseanekdote aus Japan.

Als Kind hatte ich oft diesen einen Wunsch. Ich wollte unbedingt mal eine Schatzkarte finden! Oft habe ich davon geträumt und mir ausgemalt, wie es wäre, mich Hals über Kopf in ein Abenteuer zu stürzen. In Japan habe ich zwar keine Schatzkarte gefunden, aber etwas anderes wertvolles erhalten.

Es war auf der Fahrt von Naruto nach Tokushima, als irgendwann zwischen diesen beiden Stationen ein japanischer Wanderer in den Zug stieg. Er hatte Hikingschuhe, eine lange beige und sehr weite Hose sowie ein langärmeliges graues Hemd an. In der rechten Hand hatte er einen hölzernen Wanderstock, wie ich ihn auch schon bei anderen Wanderern während der Mount Fuji Besteigung gesehen hatte. Um seinen Hals hing ein mittellanges Handtuch. Laut einiger Erzählungen war damals (2012) der „Jahrhundertsommer“ ausgebrochen. Handtücher und Schweißbänder sah ich in diesem Sommer bei sehr vielen Menschen. Anders war es bei feucht-schwülen Temperaturen über 36° C kaum auszuhalten.

Mein Gegenüber sah also aus wie ein klassischer Wanderer. Zudem hatte er graumeliertes Haar und schien schätzungsweise Mitte sechzig zu sein. Insgesamt wirkte er auf mich wie eine Mischung aus Mr. Miyagi und George Clooney. Alt, weise, charismatisch und trotz des (für mich) hohen Alters ziemlich sportlich. Unter seinem Hemd trug er ein helles Shirt. Hemd und Shirt waren von oben bis unten nass geschwitzt. Kein Wunder, bei diesen Temperaturen und seiner reichlichen Bekleidung!Als er in die Bahn einstieg, kreuzten sich unsere Blicke ein erstes Mal. Wir fanden uns sympathisch. Er konnte kaum noch laufen, so sehr war er geschwächt. Mit beiden Armen stand er unmittelbar vor mir, hielt sich an einem Sitz fest und zitterte so unheimlich stark beim reinen Stehen wie jemand, der den halben Tag in Eiswasser gebadet hatte.

Auch als er in der menschenleeren Bahn einen Platz gefunden hatte, zitterte er weiterhin am ganzen Körper. Ich hoffte, dass es an seiner Erschöpfung lag und nicht an seinem Alter oder möglichen Erkrankungen.

Schließlich kamen wir ins Gespräch, insofern man unser Gestammel als Gespräch titulieren kann.

Er war seit dem Morgengrauen in den Bergen gewesen, um zwei Berge zu erkunden. Geboren wurde er in einem kleinen Dorf nahe Naruto. Er kannte die Berge dieser Region gut, denn schließlich war er hier aufgewachsen. Auch sein jetziger Wohnort liegt in der Nähe –irgendwo zwischen Naruto und Tokushima; den genauen Namen des Dorfes verstand ich leider nicht.

Nach einer kurzen Gesprächspause kramte er in seiner Tasche und zeigte mir einen Kompass, sowie Stift und Papier. Er setzte den Stift auf dem Blatt Papier an, schaute auf den Kompass, machte Fußbewegungen, die nach laufen aussahen und zeichnete den scheinbar zurückgelegten Weg auf das Papier. Danach reichte er mir den Zettel und zeigte auf zwei neue dreieckige Markierungen, die Berge darstellen sollten. Er hatte sie heute erkundet. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass die komplette Karte per Hand gezeichnet war. Dann sagte er „Today finish map.“. Ich fragte ungläubig nach und er bejahte die Frage voller Stolz. Zwei Jahre hatte es gedauert die Karte zu zeichnen. Alle eingetragenen Pfade war er selbst erlaufen und hatte er teilweise sogar eigenständig erschlossen. Unglaublich, dachte ich mir. Was für ein schönes Andenken hatte er sich geschaffen. Ich sagte ihm, dass ich auf dem Mount Fuji war. Darüber freute er sich, grinste, deutete auf sich selbst und zeigte mir seine rechte Hand mit fünf gestreckten Fingern. Wir lachten.

Anschließend faltete ich die Karte sorgsam zusammen und schob sie zu ihm rüber. Er überkreuzte daraufhin seine Arme und deutete an, dass ich sie behalten sollte. Was? Ich sollte seine mühevoll erwanderte Karte einfach behalten? Wir kannten uns doch gar nicht! Ich versuchte es erneut, aber er reagierte wie beim ersten Mal und tippte sich mit dem rechten Zeigefinger langsam auf seine rechte Schläfe. Ich war sprachlos und kramte ebenfalls in meinem Rucksack. Ganz unten fand ich einen der 2-3 Zentimeter großen Lavasteine, die ich von der Spitze des Mount Fuji mitgebracht hatte. Als Zeichen des Danks gab ich ihm den Stein und erklärte, dass er vom Gipfel des Vulkans war. Er begutachtete die erstarrte Lava und legte sie behutsam in das vorderste Fach seines Rucksacks.Einige Stationen später stand er wortlos auf und verschwand ohne eine Verabschiedung aus der Bahn. Er war wohl nicht der Typ für große Abschiedsszenen.

Mit dem Tippen auf die Schläfe wollte er mir sagen, dass er die Erinnerungen an all die Erlebnisse während seiner Wanderungen im Kopf trägt. Er braucht keine Karte, um sich daran zu erinnern, aber sie kann einem jüngeren Menschen eine Motivation sein. Eine Motivation, die eigenen Träume und Ziele wahr werden zu lassen.

Seit fast drei Jahren hängt die Karte des wundersamen Wanderers in einem schönen Rahmen in meiner Wohnung. Und jedes Mal, wenn ich sie im Vorbeigehen sehe, dann denke ich an die Berge der Insel Kyūshū, den liebevollen Wanderer und daran, dass man im Leben alles erreichen kann.

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Spinnchen

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Judith Innreither

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