Elf Monate. Elf Monate ist es her, dass ich nach Kiew kam. Ich hatte dort für vier Nächte ein kleines Apartment am Khreshatyk genommen, 150 Meter von der ersten Barrikade entfernt. Ich wollte mir selbst ein Bild vor Ort machen.

Am 14. Februar 2014 ging ich erstmals wieder über den Khreshatyk, der nichts mehr von der einstigen Prachtstraße hatte. Die Temperatur lag bei minus 5 Grad Celsius. Ein Woche zuvor hatte es noch Minus 20. Die Straße lag ruhig da. An mir strömten Menschen vorbei, gingen in die Mode-Boutiquen und andere Geschäfte, gingen einkaufen, als gäbe es keine aufgestapelten Autoreifen, Holzkisten, Absperrungen. Am Maidan selbst war es ruhig. Die Luft war grau vom Rauch der Kohleöfen, die sich die Protestanten aufgestellt hatten, um sich daran zu wärmen. Viele trugen so etwas wie eine Uniform. Die Statuen waren mit gelb-blauen Bändern und Transparenten behängt. Eine „europäische Säule“ sollte das Ziel der Demonstranten darstellen. Es waren auch bereits wieder die üblichen Figuren vor Ort, verkleidete Ukrainer, die sich für ein gemeinsames Foto bezahlen lassen wollten. Musik dröhnte aus den Boxen rund um die Bühne. Überall Ikonen. Mit einigen Menschen unterhielt ich mich kurz. Es sei besser als in den letzten Wochen, das Wetter sei auf ihrer Seite. Ich ging über den Maidan in ein kleines Kaffee in der Mikhailvska. Dort war es ruhig wie immer. Die Kellner bemüht und bedächtig wie immer. Ich wanderte zurück. Eine kleine Gruppe Menschen stand, leisen Protest übend, vor einem Verwaltungsgebäude. Ich ging einkaufen, in die Billa-Filiale am Khreshatyk.

Tags darauf war es etwas kälter geworden. Um zwölf Uhr marschierte ein kleiner Zug älterer Demonstranten von der Billa-Filiale weg Richtung Maidan. Vor einem Verbau, wenige Meter von der Metro-Station Teatralna lagen fünf Männer und schliefen. Neben ihnen lagen leere Biedosen, Wein- und Schnapsflaschen. Sie schliefen in ihren Kleidern auf dem kalten Boden. Später erzählte mir Freunde, dass es am Vortag Geld gegeben habe. Geld? Für die Demonstrationen. Das ist hier so üblich. Auch vor Wahlen. Laut Angaben 13 Euro pro Tag. Das ist viel Geld in einem Land, in dem ein durchschnittlicher Pensionist von 80 Euro leben muss und in dem ein Arzt ca. 300 Euro pro Monat verdient. Meine Freude und ich fahren in andere Teile Kiews. Es ist ruhig. Die Restaurants sind voll, vor allem die teuren. Im neu erbauten Shopping Center „Ocean Wave“ gehen die Menschen ihren Wünschen und ihrer Arbeit nach. Nichts weist auf Unruhe hin. Es wird nicht einmal diskutiert über Politik. Ein Freund erzählt mir von seinen Plänen sich selbständig zu machen. Internet.

Tags darauf wieder Khreshatyk. Es war ein Tag der Verhandlungen. Die Protestanten waren bereit ein Verwaltungsgebäude zu räumen. Es wurde bis abends verhandelt. Davor die die kleine Menschentraube in ruhigem Protest. Das „Roshen“-Geschäft, Schokolade des späteren Präsidenten Poroshenko, hatte geöffnet, wie zahlreiche andere Geschäfte auch an diesem Sonntag. Die Luft am Maidan war wieder grau vom Rauch. Die Zahl der Menschen war an diesem Tag größer. Auf der Bühne spielten ukrainische Bands. Vor Ikonen. Wieder die verkleideten Typen, die sich für ein Foto bezahlen lassen wollten. Diejenigen, die sich am Maidan eingerichtet hatten und um die Kohleöfen saßen, waren heute stiller, gereizter. Irgendwo stritten zwei Männer und eine Frau. Die Instituskaja, eine breite Straße, die am  Hotel Ukraina vorbeiführt, war ein Trümmerfeld. Einige ältere Männer in Uniform saßen dort an Biertischen und aßen „Riba Shuba“ aus Plastikschüsseln. Ein Übertragungswagen war aufgefahren, daneben stand ein junger Reporter, hielt sein Mikrofon vor sich und sprach in die Kamera. Ich fragte einige Leute, was heute besonders sei, es wirke anders als vor zwei Tagen. Nichts. Was soll anders sein? Ich hatte nicht bedacht, dass diese Menschen schon länger dort ausharrten. Ich ging zurück. Das Verwaltungsgebäude, so die Nachrichten, wurde geräumt und freigegeben. Unter der Bedingung, dass die bisher verhafteten 2000 Protestanten freigelassen würden.

Tags darauf fahre ich zum Flughafen Borispol. Während ich auf meinen Flug warte beginnt der bis zu diesem Tag heftigste Schusswechsel.

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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