Es kursiert auf Twitter ein kurzer Ausschnitt aus einer dieser schrecklichen Polit-Talk Sendungen des Staatsfernsehens, worin der Politiker Cem Özdemir eine lange Tirade von sich gibt, mit den üblichen Echauffierungen darüber, dass gewisse Medien ja Lügen und Falschheiten verbreiten würde, und dies die Gesellschaft spaltet, weil irgendwann die eine Hälfte der Anderen nicht mehr glaubt. Der Ausschnitt endet mit einer kurzen aber zugegeben treffenden Antwort von Altmaier: „Das nennt sich Demokratie.“

Die ad nauseam wiederholten Verlautbarungen voller Empörung darüber, dass gewisse Medien und Politiker per System Falschheiten verbreiten würden, welche dann durch Wiederholung normalisiert werden und „in der Mitte ankommen“ (Özdemir dixit) sind altbekannte Steckenpferde, die grundsätzlich von anderen Medien und Politikern verbreitet werden. Es sind natürlich immer nur die Anderen, die diese Falschheiten verbreiten. Generell die, die ideologisch entgegengesetzte Positionen vertreten.

Politik hat, vor allem im Wahlkampf und in der Debatte, viel mit Rhetorik und dem Erstellen von Narrativen zu tun, und weniger mit einer makellos faktenbasierten Argumentation. Wenn die Leute über Herrn Obama schwärmen, dann erinnert sich kaum jemand an konkrete politische Ansagen von ihm, wohl aber daran, wie gut er in seinen Ansprachen rüberkam. Politiker, die über Unwahrheiten oder Falschheiten jammern sind Heuchler, denn ohne jeden Zweifel tun sie es auch. Ansonsten wäre ihre politische Karriere nicht weit gekommen. Così fan tutte.

In der Politik hat rationale Argumentation ebensoviel Bedeutung, wie in der Meinungsbildung im Menschen: Wenig. In der Soziologie sagt man in grober Schätzung, dass der Mensch seine Ansichten vielleicht zu 10 bis 20% rational trifft, und zu 80 bis 90% emotional, d.h. „aus dem Bauch raus“. Die Wahrheit zu verdrehen oder zu verfälschen gehört seit eh und je zur Politik, ob man dies nun gut oder schlecht findet. So sind die Spielregeln. Wer das ändern möchte, wird dies nie und nimmer erreichen, indem er immerzu darüber wehklagt, sondern allenfalls indem er würdevoll darüber steht und mit gutem Beispiel voran geht. Das ist diesen zelotischen Eiferern der Wahrheit dann natürlich auch zu viel verlangt.

Hingegen zeigen diese Art von Klagen die grundlegende Perversität im postmodernen Diskurs auf: Es wird nicht überzeugt, indem die vermeintlichen Falschheiten tatsächlich detailliert angesprochen werden, denn bei solcher Erbsenzählerei würde das werte Publikum wohl sehr schnell das Interesse verlieren, sondern indem man die Position verkauft, auf der Seite der Wahrheit zu stehen. Eine bequeme Position, denn wer mag es nicht gelobt zu werden, dass er die Wahrheit vertritt, während der andere ein schamloser Lügner sei. Was man hierbei eigentlich anbietet, ist ein faktenfreies Narrativ – genau das, worüber man sich mutmasslich so sehr empört.

Gleichzeitig, während man die Spaltung der Gesellschaft durch die Anderen lamentiert, führt man selber den Diskurs auf eine dogmatische Ebene: „Meine ist die absolute Wahrheit, die anderen sind Lügner“, ergo nicht, dass die eigene Position besser oder klüger sei, sondern direkt, dass es die einzige akzeptable, tolerable Position ist. Was eigentlich nur eine politische Position sein sollte, wird zu einer dogmatischen Wahrheit erhoben. Kaum etwas könnte die Gesellschaft mehr spalten, denn man verbreitet die implizite Position, die Debatte direkt zu verweigern, den Gegenüber nicht anzuerkennen, da dieser ja nur Lügen und Falschheiten verbreitet. Aus dem Voltairschen Prinzip von „ich teile ihre Ansicht nicht, werde aber bis zum Tode ihr Recht verteidigen, sie zu äussern“, wird „wer meine Ansicht nicht teilt, ist ein Lügner.“

Schon in der Bibel steht geschrieben: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein.“ Es mag wohl sein, dass rechte Populisten die Wahrheit verdrehen und verfälschen. Und ebenso tun es linke Populisten. Und mittige Populisten. Progressive Populisten und konservative Populisten. Die Demokratie ist per Definition letztlich Populistisch, denn man will eine Mehrheit des Volkes von seinen Positionen überzeugen, und das schafft man nur indem man populistischen Diskurs führt. Die Idee der erhabenen Staatsmänner, die sich nicht auf Populismus herablassen, ist nichts als eine populistische Fiktion.

Der manipulative Diskurs, dass jederzeit eine offensichtliche Einordnung in Wahrheit und Unwahrheit möglich sei, ist in sich selber ein Trugschluss. Tatsachen sind in einer hochkomplexen Realität keineswegs immer klar, und eindeutige, unwiderlegbare Erkenntnisse werden zunehmen rar. Die Wissenschaft selbst arbeitet zumal mit sog. „deskriptivem Verstehen“, also Erkenntnisse, welche nicht aus einem inhärenten Verständnis entstehen, sondern nur aus Beobachtung und Folgerung. Diese Erkenntnis sind folglich niemals definitiv, sondern immer Teil einer fortlaufenden Annäherung.

Wenn akzeptierte Thesen nicht angezweifelt werden dürfen, dann wird auch Wissenschaft verunmöglicht, denn diese obliegt oftmals der Grundlage, dass Auffassungen, die womöglich selber eine faktische oder wissenschaftliche Begründung haben, in Frage gestellt werden, und der vorangehende Nachweis als falsch entlarvt wird. Somit ist die Empörung über mutmassliche Falschheiten die verbreitet werden nichts anderes, als die Empörung über eine unserer wichtigsten Freiheiten: Die Freiheit der Erkenntnis; die Freiheit, nicht einem Dogma, also einer diktierten, unanfechtbaren Wahrheit, zu unterliegen.

Jede Freiheit trägt einen Preis mit sich, der Preis für die Freiheit der Erkenntnis ist, dass auch Unwahrheiten verkündet werden können. Wer das nicht möchte, soll offen sagen, dass er die Freiheit der Erkenntnis abschaffen möchte. Aber so gesagt, klingt es wahrlich nicht nach einem leicht zu verkaufenden Wahlspruch.

Unsere Gesellschaft ist geistig so verweichlicht, dass eine ungeheure Angst vor dem Unwissen herrscht. So gross ist diese Angst, dass viele sich nach einer erhabenen Stimme sehnen, die ihnen die Antworten gibt, die man eigentlich nur selber finden kann; die Antwort darauf, was nun wahr ist und was nicht. Hierbei suggeriert der Autor dieser Zeilen immer die gleiche Denkübung: Angenommen es gäbe ein solches „Ministerium der Wahrheit“, was wäre, wenn dieses sich irren sollte (und irgendwann würde es das, da es von Menschen gemacht wurde, und irren menschlich ist)? Niemand dürfte diesen Irrtum in Frage stellen.

Aber woher soll dann die Wahrheit kommen, an die wir uns zu halten haben, fragt nun der erkenntnistheoretisch Verwahrloste. Die Antwort ist, dass es nunmal keine solche absolute Wahrheit gibt, zumindest nicht in Fragen von grosser Komplexität und sehr relativen Betrachtungen. Jedes Individuum kann nur für sich selber Erkenntnisse erlangen. Idealerweise, werden die Meisten einen rationalen Gedankengang hegen, und in vielerlei Hinsicht in den wesentlichen Fragen übereinstimmen. Doch dies muss nicht unbedingt sein. Im Mittelalter verbrannte man mit grosser Zustimmung Hexen. In der sog. „Pandemie“ sprach man von Ungeimpften als „Blinddarm der Gesellschaft“, und weite Teile der Gesellschaft billigen diese Aussage bis heute.

Der postmoderne Diskurs greift immer mit einem emotionalen Bedenken, welches als rational verpackt wird. Die Angst vor dem Zweifel, vor der Unwissenheit, wird als rechtschaffene Empörung über das Verbreiten von Falschheiten verpackt. Was hierdurch erreicht wird, ist dass vollkommen irrationale Vorstellungen, wie ein Wolf im Schafspelz, als vernünftige Anschauungen verbreitet werden, welche den letztendlichen Effekt haben, die Errungenschaften einer aufgeklärten Zivilisation, die so viel Müh und Not gekostet haben, für einen kurzzeitigen Machtrausch auszuhöhlen.

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