Wir leben in einer Zeit, in welcher kaum etwas wirklich mit halbwegs intellektueller Sicht betrachtet oder gar zu Ende gedacht wird. Es herrschen Ansätze, Impulse, Einfälle; Skizzen von Gedanken, die einen Weg zu gehen beginnen, ohne diesen zu Ende zu laufen, und stattdessen bloss erratisch hin und her tänzeln. Die geistige Verkümmerung unserer Gesellschaft wird durch die intellektuelle Feigheit ersichtlich, schwierigen Fragen konsequent nachzugehen. Die Angst vor der Antwort schreckt irgendwann ab, und lässt stattdessen die Fragestellung abweichen. Ob dies allerdings jemals anders war mögen hellere Geister beantworten.

Robert McKees Meisterwerk „Story: Substance, Structure, Style, and the Principles of Screenwriting“ ist eine der zentralen Lektüren beim Studium der Filmwissenschaft, doch wie der Titel andeutet wird darin mitnichten nur das technische Verfassen von Drehbüchern angegangen, sondern das Konzept der Geschichte als solches abgehandelt. Das Buch beantwortet Fragen, die sich die meisten niemals über etwas so scheinbar banales wie das Erzählen von Geschichten gestellt hätten. „Geschichten sind die kreative Umwandlung des Lebens selber in eine stärkere, klarere und bedeutsamere Erfahrung. Sie sind die Währung des menschlichen Umgangs“, schreibt McKee. Er schreibt auch: „Eine Kultur kann sich ohne ehrliches, eindringliches Geschichtenerzählen nicht entwickeln. Wenn eine Gesellschaft immer wieder fade, ausgehöhlte pseudo-Geschichten erlebt, verkommt sie. Wir brauchen wahre Satiren und Tragödien, Dramen und Komödien die ein reines Licht in die dunklen Winkel der menschlichen Psyche und Gesellschaft scheinen.“

Es ist vielsagend, dass ein Buch über das Verfassen von Drehbüchern eine solch geistreiche, moderne Analyse über das Konzept der Geschichte darbieten sollte, denn ohne jeglichen Zweifel war der Film das bedeutendste Medium des 20. Jahrhunderts für das Erzählen von Geschichten. Nach einer rasanten technischen Entwicklung erreichte dieses Medium kein halbes Jahrhundert nach seinem Anbeginn schon kreative und künstlerische Höhepunkte in den 20er und 30er Jahren. Und ebenso schnell wie dieses Medium in Erscheinung getreten war, begann auch schon seine Dekadenz in den 60er Jahren mit den Tendenzen der sog. „neuen Wellen“. Heute ist, wenn sich nichts radikal ändern sollte, die Filmkunst so gut wie tot. Es bleiben nur noch die faden, ausgehöhlten pseudo-Geschichten, vor denen McKee gewarnt hat.

Der Film ist ein sehr spezielles Medium um Geschichten zu erzählen. Orson Welles hat einmal gesagt: „Ein Schriftsteller braucht einen Stift, ein Maler einen Pinsel, aber ein Filmemacher braucht eine Armee.“ Ein Buch wird zumeist von einem einzelnen Autor verfasst wird; ein Theaterstück ebenfalls von vielleicht nur einem Bühnenautor, wobei die aufführenden Schauspieler, das Bühnenbild und die Interpretation des Regisseurs unterschiedlich und austauschbar sein können, vor allem wenn das gleiche Stück in anderen Epochen präsentiert wird. Der Film benötigt hingegen einen riesigen Aufwand um dann ein abgeschlossenes Werk herzugeben. Alle Mitarbeiter der Filmproduktion sind dabei in irgend einem grösseren oder kleineren Mass mit-Autoren, denn auch ihr Beitrag wird im Film verewigt. Es ist keine variable Interpretation wie bei einem Theaterstück, wo nur das geschriebene Werk immer gleich bleibt.

Ebenfalls werden Filme oftmals, wenn inzwischen auch nicht immer, in Gemeinsamkeit konsumiert. Vor allem während des Höhepunktes der Filmkunst Mitte des 20. Jahrhunderts, war es praktisch nur in gemeinschaftlichen Kinosälen möglich, Filme zu sehen. Aus diesem Grund wohl, war Zensur im Film stets präsenter, als z.B. in der Literatur. Was man in einem Buch schreiben konnte, musste oftmals für die Leinwand gemildert werden. Was für den Einzelnen im stillen Kämmerlein akzeptable war, sorgte für Scham und Schande wenn es öffentlich präsentiert werden sollte.

Ähnlich geschieht es heute, nunmehr nicht in Bezug auf das Morbide oder Obszöne, sondern auf die ehrliche Geschichte. Sex, Gewalt, Vulgarität, Sadismus, Perversion, stören heute kaum noch jemanden, wohl aber Meinungen, die von den grossen gesellschaftlichen Narrativen abweichen. Dies spiegelt sich in der Zensur der Filme, nunmehr informell und selbstauferlegt, wieder. Und es ist schlussendlich auch der Nachweis dafür, wie unsere Gesellschaft, oder besser gesagt die gesellschaftlichen Narrative, zu Konstrukten aus Lügen und Falschheiten verkommen sind. Denn diese unehrlichen, geistig kastrierten Geschichten, welche forcierte, künstliche, unorganische Narrative stützen wollen, reissen nicht mit, schaffen keine Leidenschaft und Emotion, ausser vielleicht Wut und Selbstgefälligkeit. Denn in seinem tiefsten Inneren erkennt der Mensch, was echte Emotionen und Archetypen sind, und was Manichäismus ist.

Archetypen sind universelle Grundsätze in Geschichten, welche in abstrakter und destillierter Form unsere menschliche Erfahrung der Realität widerspiegeln. Liebe, Eifersucht, Betrug sind Archetypen unseres komplexen zwischenmenschlichen Verhaltens; Helden, Schurken, Feiglinge oder die Jungfrau in Nöten sind Archetypen menschlicher Persönlichkeit. Wenn man von der „Moral von der Geschichte“ spricht, so ist dies nichts weiter als das grundlegende Archetyp, welches die Geschichte übermittelt. Dies muss natürlich nicht unbedingt im einfachen Sinne eine solche Moral sein, sondern kann auch komplexe Phänomene unseres Lebens und unserer Realität aufzeigen. Das ist es, was der Geschichte einen Wert gibt, und weshalb Geschichten in der Entwicklung der Menschheit in allen Kulturen immerzu als Leitfaden der kulturellen Beschaffenheit präsent gewesen sind.

Die heutige Form des Geschichtenerzählens setzt den Fokus fundamental anders, nicht auf die Archetypen, sondern die Stereotypen. Nicht die Intention der Geschichte zählt, sondern die Identitäten und in welchem Bezug sie zueinander stehen. Dies ist eine markant postmoderne Ansicht, worin auf das Abbild bzw. die Fassade ein grösserer Wert gelegt wird, als auf den Inhalt, ein Verhalten das immer allgegenwärtiger wird, in allen Bereichen des Lebens. Nur das Sichtbare zählt, nicht das Wesentliche; Form geht über Funktion; Schein über Sein. Bei neuen Film- und Fernsehproduktionen wird, ebenso, der identitäre Aspekt in den Vordergrund gerückt, während der archetypische Aspekt nicht mehr von Relevanz scheint.

Das Ziel solcher Geschichten ist nicht mehr „die kreative Umwandlung des Lebens selber in eine stärkere, klarere und bedeutsamere Erfahrung“ (McKee dixit), sondern eine Belehrung, das Diktat darüber, wie das Leben nun wahrgenommen werden sollte. Nicht die Geschichte soll das Leben repräsentieren, sondern das Leben soll dem entsprechen, was die Geschichte uns präsentiert. Wenn man die Inhalte zeitgenössischer Filme abfällig als Propaganda bezeichnet, so ist das keine Übertreibung, sondern eine mehr als akkurate Einordnung: Denn Propaganda funktioniert dadurch, dass sie die Realität in das Korsett eines vorgegebenen, künstlichen Narrativs zwängt.

Hierdurch wird jegliche Bedeutung des Geschichtenerzählens buchstäblich auf den Kopf gestellt, indem der ursprüngliche Sinn dieses Brauches invertiert wird. Die meisten Menschen wären nicht fähig, diesen Vorgang als solchen zu definieren, doch unterbewusst erkennen sie die Falschheit, die Perversität dieser verdorbenen Erzählkunst, und wenden sich davon ab. Das audiovisuelle Medium hat innert weniger Jahren seine einst unangefochtene Vorherrschaft für das Präsentieren von Geschichten verloren.

Verkümmerte Geschichten sind das Spiegelbild einer geistig verkommenen Gesellschaft, welche sich selber mit gefälligen Lügen vergiften möchte. Die sterbende Filmkunst ist ein Abbild vom geistigen Tod einer Kultur.

Dieser Text übernimmt einige Passagen aus „Anmerkungen zur Postmoderne (1): Von Archetypen und Stereotypen“

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