Brexit: Wählerinnenwatsche und gewatschte Wählerinnen

Dem Vereinigten Königreich nachzutrauern ist vielleicht genauso sinnlos, wie die Sehnsucht nach einem "Great Empire". Dieses Wieder-Wer-Sein-Wollen einzelner Nationen widerspricht dem Gemeinschaft-Sein-Können in Europa. Der britischen Extremfall zeigt, wie, womit und mit wem die EU nicht funktionieren kann.

Allem Anfang wohnt eine Skepsis inne

Zumindest, wenn die europäische Union mehr sein soll, als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Eine Gemeinschaft ist von Kooperation und gemeinsamer Koordination abhängig. Ein chaotischer Bund von Einzelnationen, die nur auf sich selbst schauen, wenn's einmal ernst wird, ist keine Union. Da hilft auch keine gemeinsame Währung - wie die ökonomische Vernichtung Griechenlands zeigt. Da helfen keine gemeinsamen Institutionen und kein Geschwätz von Solidaritäts- und Friedensprojekt, kein Friedensnobelpreis, keine europäischen Menschenrechte - wie sich vor allem bei den Asylaufgaben herausstellt.

Die Brexit-Entscheidung war dumm. Sie beruht großteils auf falschen Gerüchten und Lügen. Aber die Emotionen, die diesem Protest zugrunde liegen, sind echt und verständlich.

Dass sich EU-Parlament und Kommission mit der Sache auseinandersetzen ist klar. Realpolitisch ist es aber genauso gewichtig, wenn Mutti Merkel zur Audienz bittet. Daraufhin folgen Holland und Renzi, also Frankreich und Italien, sowie der Präsident des Europäischen Rates nach Berlin. Die deutsche Hauptstadt ist natürlich nicht Sitz dieses Rates. Und was ist mit den übrigen 25 bzw. 24 Mitgliedern? Haben die nichts mitzureden? Weil beim politischen Einfluss doch nur die Wirtschaftsgröße zählt? EU-Skepsis ist nicht unbegründet. Und wer könnte europaskeptischer sein als das alte Inselkönigreich?

This is England

Extrawürstelesser und Rosinenpicker (auch ein Sinnbild für die großbritische Küche): "This is England". Europäisch sind eher die anderen. Britisch - das ist ein Inseldasein, viel mehr historisch als geografisch geprägt. Bereits Charles de Gaulle stand dieser Insel-Mentalität und der starken Bindung des UK an die USA skeptisch gegenüber. Die Konzentration auf die französisch-deutsche Achse in der EU ist nicht verwunderlich. Genausowenig der britische Ärger über seine Außenseiterrolle, auch wenn es diese selbst mitzuverantworten hat, indem es gaullistische Vorurteile immer wieder bestätigt. Aber immerhin gehört man doch auch zu den Großen in Europa. War einst Welt(meer)macht.

Genau. Das Great Empire suchte und fand sein Glück immer schon gerne außerhalb Europas. Als See- und Kolonialmacht, als globaler Finanzschausplatz, später als verlängerter Arm des neuen Imperiums USA. Durch letzteres ist man wieder wer, wenigstens irgendwer in der Welt. Und jedes Jahr in der "Last Night of the Proms" steht der Sänger im historischen Kostüm in der Royal Albert Hall und das Publikum singt ergriffen mit: "Rule, britannia!" Neben anderen patriotischen Liedern aus Zeiten, in denen die Rotröcke weltweit gefürchtet waren. Wer denkt dabei schon gerne an die Gegenwart im friedlichen Europa, in dem das Abenteuer bedeutet, sich mit den Wünschen und Problemen anderer Nationen auseinander zu setzen, anstatt sie im Namen seiner Majestät zu erobern oder zu übervorteilen, was viel leichter wäre.

Da schwingt eine Romantisierung des Kolonialismus – also Völkermord, Vetreibung, Sklaverei - mit. Den brachte natürlich nicht nur das britische Imperium über die Menschheit. Und auch nicht alle Brit_innen verwechseln die nostalgische Verklärung der eigenen Geschichte mit Traditionspflege. Sehnsüchte nach imperialer Geltung und nationalistischer Egoismus stehen überall im Widerspruch zum so genannten "europäischen Geist". Ein Friedensprojekt zeichnet sich letztlich dadurch aus, dass man die Interessen der anderen zu seinen eigenen Interessen macht. Wenn's den anderen so gut geht wie mir, gibt es keinen Grund für Feindseligkeiten.

Rechtspopulismus: Bei gefährlichen Nebenwirkungen siehe David Cameron

In ganz Europa hört man pathetisches bzw. pathetic Nationalgetöse, zeigt sich eine Wir-Sind-Wir-Wirrnis. Wann wird sich Polen (oder Bayern) als katholischer Kirchenstaat aus der EU verabschieden? Wann werden die Magyaren unter Orban wieder auf Nomadentum und Reiterhorden umsatteln? Wann wird sich Liliput und Blefuscu wieder bekriegen, weil man sich nicht darauf einigen kann, wie man gekochte Frühstückseier aufzuschlagen hat?

Das Brexit des Vereinigte Königreichs ist nicht der einzige Fall nationalitischer Dummheit in Europa, es stellt keinen Gegensatz zum Rest der EU dar. Es ist exemplarisch für die gefährlichen Nebenwirkungen des europäischen (Rechts)Populismus. In diesem Fall braucht man kein Geschichtsbuch. Es geschieht in Echtzeit.

Die Insel hat einen Premierminister, der diese Abstimmung erst vollmundig ermöglichte und bereits seinen ersten Wahlkampf mit EU-feindlichem Brustklopfen bestritt. Jetzt schaut er blöd aus dem Anzug, weil andere aus seinen großen Worten Taten machten. Genauso wie so manche Wähler_innen, die für den Brexit stimmten. Es konnte vielleicht niemand ahnen, dass Demokratie immer noch funktioniert?!

Ihr wollt Vergangenheit? Ihr bekommt Vergangenheit!

Damit Demokratie aber wirklich funktioniert, müssen sich Wähler_innen ihrer Verantwortung (und Wirkung) bewusst sein. Die britische Wähler_innenwatsche sollte dieses Bewusstsein nun wieder wachrütteln - und zwar in ganz Europa. Der Nationalismus des bald nicht mehr völlig vereinigten Königreichs wurde Opfer seiner selbst. Die schottischen Nationalist_innen bereiten bereits ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum vor. Das katholische Nordirland denkt auch darüber nach und befindet sich deshalb erneuten im Konflikt mit dem protestantischen. Die Handelsbeziehungen mit Continental Europe werden teurer, die Wirtschaft darunter leiden, die Arbeitslosigkeit steigen. Man wird das Gegenteil dessen erreichen, was der Brexit für seine Befürworter_innen bringen sollte.

"We want our country back!" Das bekommt ihr: Kern-England, wie es ungefähr zur Zeit von Wilhelm dem Eroberer (übrigens ein "Immigrant";) aussah. Und das alles u.a. wegen "Flüchtlingsströmen", die England nie erreicht hätten und Geldgeschenken an die EU, die es nie gab. Der einzige, der durch den Brexit gewinnt, ist UKIP-Chef-Lügner Nigel Farage, der wahnsinnig stolz ist auf den Schaden, den er in seiner Heimat mit-angerichtet hat. Er sollte uns allen als Warnung vor unseren eigenen Populist_innen dienen. Die arbeiten alle mit den selben Methoden. In der größten Gerüchteküche der Menschheitsgeschichte, dem Internet, vergiften zu viele von ihnen den Informationsbrei.

Keine "g'sunde Watschen". Aber ein Erwachen?

Vor dem Brexit intepretierte man selbigen gerne als Drohgebärde gegen Europa. Schnell, "hug a brit"! Danach hat sich das Narrativ allerdings schlagartig verändert. Ein böses Erwachen: Es wird plötzlich klar, dass gerade England isolierter dasteht, als ihm lieb sein sollte. Und dass es die EU mehr braucht als umgekehrt - nicht nur um sein eigenes Kingdom vereint zu halten. Man wollte, in der Verletztheit seines Stolzes, der aus dem selben Elend erwächst wie im übrigen Europa, Brüssel eine Ohrfeige verpassen. Man hatte das falsche Ziel vor Augen, denn die Feinde sitzen, wie überall, in den jeweils eigenen Reihen zuhause. Jetzt steht man selbst geohrfeigt da. "G'sund" ist so eine Watschen nie. Im besten Fall weckt sie uns auf, uns alle.

Die EU funktioniert nicht mit nationalistischem Egoismus und dem Vorrecht des wirtschaftlich Stärkeren, nicht mit Populismus und Lügen, nicht mit einer Bevölkerung, die erst nach einer Abstimmung googelt, worüber sie überhaupt abstimmt, nicht mit Spott darüber (Ich reisse mich sehr zusammen). Vielleicht ist dieses Brexit also etwas, das die EU braucht, eine Schocktherapie für gewatschte Wähler_innen.

Da kommen auch zwei wichtige Fragen auf: Braucht eine Gemeinschaft Mitglieder, die keine sein wollen? Und setzt das Ernstnehmen der Demokratie nicht voraus, dass man Wähler_innen ernst nimmt?

wikicommons

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Gerhard Novak

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