Was ist bloß los mit mir, dachte ich in den letzten Wochen, als ich gegenüber Aboud, der seit Oktober mein Mitbewohner ist, plötzlich zwiespältige Gefühle entwickelte. "Seid ihr in den Mühen der Ebene angekommen?" Das fragte mich mein Lieblingskollege von schräg via-a-vis auf Facebook. Und jemand, der mich schon am Anfang davor gewarnt hatte, einen syrischen Flüchtling aufzunehmen, meinte, jetzt habe dieser wohl „sein wahres Gesicht“ gezeigt.

Was war passiert? Seit Abouds Asylantrag positiv beschieden wurde und er einen grauen Konventions-Reisepass besitzt, habe ich eine innerliche Ungeduld entwickelt, die mehr mit meiner als mit seiner Person zu tun hat. Warum hast du dir noch keinen Deutsch-Intensivkurs gesucht, habe ich ihn des öfteren gefragt. Was willst du eigentlich studieren, wollte ich von ihm wissen. Warum hast du die Papiere, die du dafür brauchst, nicht schon längst organisiert? Diese Papiere liegen in einem Koffer bei einem Cousin in der Türkei und einmal hat der Cousin kein Geld, dann hat er keine Zeit und dann kann er zu wenig Türkisch, um sie aufzugeben. Warum suchst du dir dann keinen Job, um ein bisschen Geld zu verdienen? Aboud wird ab April Mindestsicherung beziehen. 837,76 Euro pro Monat, davon sind ca. 200 Euro für Wohnen vorgesehen. Ich ertappte mich dabei zu denken, dass das viel zu viel sei.

Angetrieben von unterschwelligem Ärger begann ich, ihn mit meinem Vorstellungen von Ehrgeiz und Erfolg zu messen. Er muss den Druck gespürt haben, denn manchmal gingen wir uns am Abend aus dem Weg, statt zum x-ten Mal über eine Möglichkeit zu diskutieren, die verdammten Papiere irgendwie nach Wien zu bringen oder uns gemeinsam mit einer Tasse schwarzem Tee hinzusetzen und einfach nur zu chillen.

Ich entwickelte plötzlich so etwas wie Verständnis für jene, die fordern, dass Asylwerber Sozialarbeit leisten sollten, dass die Mindestsicherung an Leistungen gebunden sein sollte. Ich dachte mir wirklich, Aboud würde es sich im Sozialsystem bequem machen, denn er pilgerte von AMS zu Fonds Soziales Wien, von der Wiener Gebietskrankenkasse zum Integrationsfonds und wieder zurück. Damit verbrachte er seine Tage. Und er schlief zumeist bis 1 Uhr mittags, während ich um 7 Uhr bereits Kaffee trinke und um spätestens 8 Uhr jeden Morgen (auch am Samstag) in die Redaktion fahre. Durch den gegensätzlichen Tagesablauf sahen wir uns oft nur ein paar Minuten spätabends (wenn ich mich ins Bett und er sich auf Facebook vertschüsste).

Ich erzählte meinen Freundinnen und meinen Söhnen von der abgekühlten Atmosphäre, ich schämte mich auch für meine Gefühle, aber leugnen bringt ja nichts und deshalb bin ich Susanne wirklich dankbar, denn sie schlug vor, dass wir uns doch mit einem Mediator zusammensetzen sollten, um die Dinge zu klären. Sie hatte Recht. Denn eine Aussprache war ich Aboud schuldig. Weil ich ihn liebgewonnen habe. Weil er mein Leben in vielerlei Hinsicht bereichert hat. Manchmal umarmt er mich spontan und dankt mir für meine Fürsorge. Wenn ich am Abend mit den Nerven fertig bin, kocht er rote Linsensuppe für mich. Wenn ich ihn aus dem Auto anrufe, dass ich gleich da bin, trägt er mir die Einkäufe in den 2. Stock. Ich könnte mir inzwischen gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne ihn wäre.

Mediation also. Als ausgebildete Mediatorin weiß ich, wie sinnvoll so ein vermittelndes Gespräch sein kann. Michael Wiklund ist eigentlich Unternehmensberater. Aber in Wirklichkeit ist er ein Freund der Familie, ein großartiger Coach und Mensch, der mich immer wieder mit seiner Empathie, seiner Phantasie und seinen professionellen Tools überrascht.

Wir trafen ihn zu dritt: Mein Sohn, Aboud und ich. Ich verstand zunächst nicht, warum Michael am Anfang unbedingt klären wollte, was Gastfreundschaft für Aboud und für uns bedeutet. Aber es war, wie sich dann herausstellte, wichtig und der Schlüssel zum Erfolg. Für Aboud mit seinem kulturellen Hintergrund bedeutet Gastfreundschaft ab dem dritten Tag in erster Linie Familie. Ich bin für ihn wie eine Mutter und Alex ist für ihn wie ein Bruder. Für uns bedeutet Gastfreundschaft etwas anderes: Aboud ist für uns ein lieber Freund geworden und wir geben ihm vorübergehend Platz, Unterstützung und Aufmerksamkeit.

Michael übersetzte die unterschiedlichen Anschauungen in sehr wertschätzender Art und Aboud konnte unsere Einstellung gut annehmen. Darauf begründete sich unsere weitere Arbeit. Michael fragte Aboud, ob er sich von uns verstanden fühlt mit der Geschichte seiner Flucht, dem Aufgeben seiner Heimat, der Reise über die Balkanroute bis nach Österreich, dem Neubeginn in einem völlig fremden Land. Und er fragte uns, ob wir glauben zu verstehen, wie es Aboud wohl mit all dem geht.

Dann zeichnete er eine Kurve, die emotionale Kurve der Veränderung. Den Schock, die Verneinung, die rationale Akzeptanz, den Tiefpunkt, die emotionale Akzeptanz und schließlich den Aufbruch, dem die Integration in das neue Leben folgt.

Ich ahnte, was jetzt kommen würde, denn Aboud schaute unheimlich traurig. Michael fragte ihn, wo er sich denn jetzt gerade emotional befinde. Er deutete auf den Tiefpunkt. „Das ist das Tal der Tränen“, sagte Michael und wir mussten alle drei fast weinen.

Wer sich im Tal der Tränen befindet, erklärte Michael, kann nicht jeden Morgen aufstehen und sich um Jobs kümmern oder um Studienrichtungen. Wer noch immer damit ringt, seine Heimat verloren zu haben, kann sich nicht in einem neuen Land behaupten. Aboud braucht noch Zeit.

Wir werden unsere Mediation fortsetzen. Aber auf Basis dieses wertvollen Wissens darum, wie es ihm und wie es mir - uns - geht. Die Fragen, wieviel Miete er mir in Zukunft bezahlt, ob er die fehlenden Papiere vielleicht selber aus der Türkei holt, was er studieren will und mit welchem Ziel, oder ob er vielleicht doch arbeiten wird, haben eine andere Bedeutung bekommen.

Die Antworten werden sich von selber ergeben, wenn Aboud erst einmal den Aufbruch wagt, mit der Vergangenheit abschließen kann, sich selbst erlaubt, erfolgreich und glücklich zu sein.

Er braucht mehr Zeit, so einfach ist das. Und ich muss meine Ungeduld wohl etwas im Zaum halten.

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