Die antisemitische Interpretationsmöglichkeit von Sicherheit-Israels-deutsche-Staatsräson

Die frühere deutsche Kanzlerin Merkel hatte es 2008 in einer Rede vor der Knesset, also dem israelischen Parlament geprägt, dann hatte es die SPD übernommen, dann CSU, FDP und Grüne: das Dogma, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei.

https://www.n-tv.de/politik/Parteichefs-Sicherheit-Israels-ist-deutsche-Staatsraeson-article24448443.html

(Hier in der aktuellesten Form)

Hier Merkel 2021:

https://www.n-tv.de/politik/Merkel-Sicherheit-Israels-ist-deutsche-Staatsraeson-article22857013.html

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/199894/israels-sicherheit-als-deutsche-staatsraeson/

Was allerdings in all den 15 Jahren seither vertuscht oder verschwiegen wurde, ist der massiv antisemitische Charakter bzw. die massiv antisemitische Interpretationsmöglichkeit dieser Sicherheit-Israels-Deutsche-Staatsräson-Rhetorik.

Laut dem Staatsphilosophen Machiavelli (1469-1527) ist Staatsräson das, was ein Staat oder ein Staatsführer tun muss, um den Staat aufrechtzuerhalten, und das kann im Extremfall bis zum Mord hin gehen.

Diesem Gedanken folgend ist die Sicherheit Israels also nicht etwas, was deutsche Politiker freiwillig wählen und aus freien Stücken zur Staatsräson erklären, sondern so gesehen sind deutsche Politiker und ist Deutschland gegen eigenen Willen gezwungen, die Sicherheit Israels zu einer der obersten Maxime zu erklären.

Weil ansonsten, so die antisemitische Interpretation dieses Staatsräson-Sagers eine angebliche jüdische Weltverschwörung, insbesondere in den Medien, Deutschland massive Probleme machen würde, oder es vielleicht sogar fast zerstören würde.

Zu diesem interpretativen Quasi-Diktat, dass der deutsche Staat die Sicherheit Israels über die eigene Sicherheit stellen müsse, weil einige Juden das eben so wollen, oder fast das müsse, passt auch das Zitat von Michel Friedman aus dem "Rheinischen Merkur", 16. November 1985:

„Versöhnung ist ein absolut sinnloser Begriff. Den Erben des judenmordenden Staates kommt gar nichts anderes zu, als die schwere historische Verantwortung auf sich zu nehmen, generationenlang, für immer.“

Es ist kein Wunder, dass Friedman das in einer katholischen Zeitung veröffentlichte, aber es hat eben auch einen Beigeschmack von quasi-totalitärer Vorschrift, wie Katholiken laut einem Juden die Erbsündenlehre interpretieren müssen. Man könnte aber auch sagen: genau umgekehrt: die Erbsünde (der Deutschen und Österreicher) besteht vielleicht eher darin, die Fehler so mancher jüdischen Regierung und so mancher jüdischer Politiker zu decken, aus Angst vor der Nazi-Keule und vor dem Nazi-Vorwurf.

Dieser als quasi-totalitären Vorschrift interpretierbaren Aussage von Friedman, einer in Deutschland mächtigen (jüdischen) Medienpersönlichkeit, Deutschland vorzuschreiben, was ihm zukomme, auf ewige Zeiten und was nicht, kann man gar nicht widersprechen, vermutlich auch in Österreich nicht, ohne ins Nazi-Eck gerückt zu werden.

Angela Merkel mit ihrem kryptischen und oft doppeldeutigen Sprech fand mit der Staatsräson-Rhetorik eine Möglichkeit, etwas auszudrücken, was sowohl unter Neonazis/Antisemiten wie auch unter Juden zustimmungsfähig war und bejubelt wurde, nämlich die angebliche "Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson".

Dieses doppeldeutige "Sprachspiel" a la Wittgenstein, kann man auch sehen als subversive Karikatur auf einen ziemlich verrückten Mediendiskurs, der ständig die Wiederkehr des Nationalsozialismus in Deutschland als angebliches Menetekel an die Wand malt, um irgendwelche Interessen durchsetzen zu können.

Gerade diese Doppeldeutigkeiten, diese Vageheit, diese Ambivalenz in der Rede ist eigentlich eine typische Diskurslogik in einer Diktatur, wie im Nationalsozialismus oder im Stalinismus. Womit sich die Frage stellt, ob die heutigen Staaten Deutschland und Österreich Opfer einer holocaust-inversen Diktatur seien, in denen die freie Rede wegen den Belastungen durch den Nationalsozialismus vor 90 Jahren unmöglich ist, weshalb man ständig zu Doppeldeutigkeiten greife, die sowohl für Juden als auch für Neonazis/Antisemiten zustimmungsfähig sind, mit jeweils radikal unterschiedlichen Interpretationen ein und desselben Sicherheit-Israels-deutsche-Staatsräson.

Der Politikwissenschafter Herfried Münkler nannte Angela Merkel einmal eine "Defensivkünstlerin". Aber die nichtssagende und doppeldeutige defensive Rede kann durchaus langfristig ein Schaden für die Demokratie sein, eine Art nationales Spamming, das wirkliche Debatten und wirkliche Positionen verdrängt, und eine Demokratie mit freier Rede und kontroversen Positionen umwandelt in einen Berg von Teflon, wo Politiker und Politikerinnen nur mehr daran interessiert sind, nichts zu sagen, oder alles so doppeldeutig zu sagen, dass von Linksextrem über Mitte bis Rechtsextrem alle zustimmen können, weil alle es total unterschiedlich interpretieren. Eine solche Teflon-Demokratie ist eigentlich unter gewissen Umständen fast schon eine Diktatur des Nichtssagenden, eine Diktatur des verschieden-Interpretierbaren.

In dieser Nichtssagendheit ähnelt Angela Merkel (CDU) dem früheren österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer (SPÖ), über den es den Sager gibt "Immer, wenn es um eine heikle Entscheidung geht, geht der Heinz aufs Klo, um nicht abstimmen zu müssen und keine Position beziehen zu müssen". Heinz Fischer schreib einmal in einer politikwissenschaftlichen Zeitschrift einen Artikel, dessen Quintessenz es war, dass die beste Methode, innerhalb eines Funktionärsapparat aufzusteigen, sei, absolut keine Meinung zu haben. Und - so könnte man sagen - der Erfolg gab Heinz Fischer recht, mit dieser Methode der Positionslosigkeit und Meinungslosigkeit wurde er Bundespräsident. Und in seiner zweiten Periode, als er nicht mehr wiedergewählt werden konnte, bezog er dann doch tatsächlich so etwas wie eine Position, zum Beispiel, indem er meinte, er würde nie die Wehrpflicht auf dem Altar des Populismus opfern, was man in der konkreten Situation verstehen konnte als Kritik, als für Fischer´sche Verhältnisse extrem scharfe Kritik an einem Parteikollegen, nämlich Michael Häupl, dem Wiener Bürgermeister, der als SPÖ-Kurs einen hundertprozentigen Kurswechsel durchgesetzt hatte, von Wehrpflichtbefürwortung zu Wehrpflichtablehnung, vermutlich in der populistischen Hoffnung, so die Jugend als Wähler zu gewinnen.

Ich trage die Grundidee zu diesem Text und diesen Gedanken rund um die "Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson" schon viele Jahre, fast Jahrzehnte mit mir herum, ohne ihn zu veröffentlichen. Aber anläßlich der jüngsten Ereignisse in Nahost und der Reaktionen hier in Europa und Österreich veröffentliche ich ihn doch.

Und wegen meinem jahre-, fast jahrzehntelangen Schweigen zu diesem Thema muss ich den Teflon-Vorwurf, den Vorwurf des Nichtssagenden wohl auch an mich selber richten. Was auch wieder eine gewisse Diktaturähnlichkeit hat, denn Diktaturen neigen dazu, ihre Bürger in ihre Verbrechen bzw. Fehler zu verwickeln.

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