Erster Präsidentenwahlgang gesetzeswidrig - BPräsWG braucht Totalreform

Nun ist es also fix: der zweite Wahlgang der Bundespräsidentenwahlen wird verschoben, das Bundespräsidentenwahlgesetz (BPräsWG) soll geändert werden, allerdings dem Vernehmen nach nur ein bisserl, sowenig, sodass das Ergebnis wieder anfechtbar sein könnte, bzw. der Bundespräsident beschädigt.

Beim ersten Wahlgang zur Bundespräsidentenwahl gab es sechs Kandidaten, von denen ca. fünf bei korrektem Wahlkampf Chancen auf Einzug in die Stichwahl gehabt hätten.

Allerdings tritt ein neues Phänomen auf, wenn mehr als drei Kandidaten (bzw. -innen) Chancen auf den Einzug in die Stichwahl haben: das taktische Wählen. Taktisches Wählen bedeutet, dass ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft seine Wahlentscheidung von folgender Überlegung abhängig macht: "Ich würde ja gerne X wählen, aber weil Medien und Meinungsumfragen sagen, das X keine Chance hat, in die Stichwahl zu kommen, wähle ich stattdessen Y oder Z."

Wenn Meinungsumfrage 100%ig treffsicher wären, wäre das kein Problem, aber sie sind fehleranfällig bzw. sie werden absichtlich zur Beeinflussung des Wahlergebnisses verwendet. Beim ersten Wahlgang bzw. davor lagen die Meinungsumfragen um bis zu 15% daneben.

Daher wurden zahlreiche Wähler im ersten Wahlgang irregeführt durch falsche Meinungsumfragen und ihr taktisches Wahlverhalten.

Diese Irreführung der Wähler erfüllt (möglicherweise) den strafrechtlichen Tatbestand StGB §263 "Täuschung bei einer Wahl". Allerdings gibt´s zu diesem StGB-Paragraphen kaum Judikatur und schon gar nicht in so einem Fall (dass so viele Kandidaten Chancen auf Stichwahleinzug gehabt hätten, tritt erstmalig auf). Tausenden Journalisten oder Umfrageinstitutsmitarbeitern oder Ähnlichen einen Strafprozess zu machen, würde international ein schlechtes Bild abgeben, auch wenn es rein juristisch einigermassen gerechtfertigt erscheinen mag.

StGB §263 "Täuschung bei einer Wahl"

http://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Dokumentnummer=NOR12029812&ResultFunctionToken=b51bc655-d736-473f-9a90-b2334779ccdc&Position=1&Kundmachungsorgan=&Index=&Titel=StGB&Gesetzesnummer=&VonArtikel=&BisArtikel=&VonParagraf=263&BisParagraf=&VonAnlage=&BisAnlage=&Typ=&Kundmachungsnummer=&Unterzeichnungsdatum=&FassungVom=12.09.2016&VonInkrafttretedatum=&BisInkrafttretedatum=&VonAusserkrafttretedatum=&BisAusserkrafttretedatum=&NormabschnittnummerKombination=Und&ImRisSeit=Undefined&ResultPageSize=100&Suchworte=

Zitat: "Wer durch Täuschung über Tatsachen bewirkt oder zu bewirken versucht, daß ein anderer bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt oder gegen seinen Willen eine ungültige Stimme abgibt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen."

Es ist weder von "absichtlichem Bewirken (des Wahlirrtums)" noch von "fahrlässigem Bewirken" noch von "absichtlichem oder fahrlässigem Bewirken" die Rede, sondern nur von "Bewirken", was man so interpretieren, dass die Absicht keine Rolle spielt. (Andererseits kann man dem Begriff "Täuschung" so interpretieren, dass Absicht erforderlich ist).

Die VfGH-Judikatur in Wahlrechtsfragen definiert die "Reinheit der Wahl" so, dass der Wille der Wählerinnen und Wähler unverfälscht zum Ausdruck kommen muß; ob absichtliche oder unabsichtliche Verfälschungen des Wählerwillen in einem beträchtlichen, ergebnis-beeinflussen-könnenden Ausmaß vorkommt, ist egal; beides reicht für Stattgebung einer etwaigen Wahlanfechtung.

Eine Möglichkeit, die Anfälligkeit unseres jetzigen Wahlsystems für Wahltäuschungen zu verringern, ist das Reihungswahlrecht bzw. Vorzugswahlrecht. Hier geben die Wählerinnen und Wähler nicht nur ihrem Liebling die Stimmen, sondern sie reihen alle Kandidaten: "Am liebsten ist mir X, am zweitliebsten Y, am drittliebsten Z, etc."

Einer der Vorteile des Reihungswahlrecht ist, dass dann taktisches Wählen überflüssig ist.

Es gibt verschiedene Modelle für Reihungswahlrecht: Condorcet-, Borda- und Schulze-Verfahren. Beim Borda-Verfahren bekommen die Kanidaten durch jeden Wähler umso mehr Punkte, je höher sie gereiht sind, zum Beispiel der Erstgereihte 4, der Zweitgereihte 3, der Drittgereihte 2 und der Viertgereihte einen Punkt (alle weitern keine Punkte). Und gewählt ist am Ende der, der am meisten Punkte hat.

Borda-Verfahren sind administrativ einfacher, haben aber gegenüber Schulze einige Nachteile: sie sind nicht völlig immun gegenüber taktischem Wählen (allerdings viel weniger anfällig als unser jetziges System) und bei Borda-Verfahren gewinnt nicht immer der Condorcet-Sieger (der alle hypothetischen Stichwahlen gewinnt).

Beim unserem jetzigen Wahlsystem haben Vertreter politischer Extreme einen Vorteil, weil die Ablehnung durch Wähler des entgegengesetzten Extrem unverwertet unter den Tisch fällt. Hingegen haben bei Reihungswahlsystemen Vertreter der politischen Mitte, die oft viele Zweit- und Drittreihungen, aber kaum Letztreihungen haben, einen Vorteil.

Die polarisierenden Wahlkämpfe in unserem jetzigen System tragen auch eine hohe Wahrscheinlichkeit für Wahlmanipulation in sich, weil Vertreter politischer Extreme eher gewillt sind, den Rahmen des Gesetzes zu verlassen, um den Kandidaten des jeweils anderen Extrems zu verhindern, während es Vertretern der politischen Mitte eher egal ist, ob ein Vertreter des rechten Extrem oder des linken, des migrationsfreundlichen oder migrationsskeptischen Extrem gewinnt.

Zusätzliche Möglichkeiten, das BPräsWG zu verbessern, wären Single Transferable Vote (STV). Bei diesem Stimmenübertragsystem werden auch Listen und Reihungen gebildet, aber es werden anschließend solange die unterstützungsschwächsten Kandidaten ausgeschieden und ihre Stimmen an die Nächstgereihten übertragen, bis ein Kandidat eine absolute Mehrheit hat. So gesehen ähnelt STV dem instant-runoff-voting ("Sofortige-Stichwahl-Wahl" ).

Egal, ob Reihungswahl, STV oder instant-runoff-voting: bei all diesen Verfahren ist ein einziger Wahlgang ausreichend, um den Sieger zu ermitteln.

Unser jetziges BPräsWG erscheint maßgeschneidert für das Zwei- bis Zweieinhalbparteiensystem, das Österreich bis ca. 1986 hatte. Aber seither hat sich die Politlandschaft stark geändert: aus dem Zwei- bis Zweieinhalbparteiensystem wurde ein Fünf- bis Sechsparteiensystem. Mit eben sechs Bundespräsidentschaftskandidaten und der neu auftretenden Möglichkeiten, dass mehr als drei Kandidaten Chancen auf Stichwahleinzug haben, dem dadurch entstehenden taktischen Wählen und dem Wahlmanipualtionsverdacht, der auf Medien und Meinungsumfrageinstituten lastet.

Zusätzlich kommt folgendes ins Spiel: wenn die Meinungsumfragen schlecht sind, ändern Kandidaten ihre Strategie: sie versuchen mitunter, wenn die Umfragen - egal, ob korrekterweise oder nicht - ihre Chancenlosigkeit behaupten, gar nicht mehr, die Wahlen zu gewinnen, sondern sie versuchen (z.B. in Fernsehdebatten) nur mehr, den chancenreichen Kandidaten, den sie selber favorisieren, zu pushen und gut aussehen zu lassen, hingegen dem chancenreichen Kandidaten, den sie am wenigsten mögen, zu schaden.

Man kann auch das als Verletzung der "Reinheit der Wahl" betrachten, die der VfGH zum Kriterium für Aufhebung von Wahlergebnissen macht.

Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Instant-Runoff-Voting

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbertragbare_Einzelstimmgebung

https://de.wikipedia.org/wiki/Schulze-Methode

https://de.wikipedia.org/wiki/Borda-Wahl

https://de.wikipedia.org/wiki/Condorcet-Methode

Hochschaubahn Präsidentenwahlen: es geht hin und her, rauf und runter, das ganze Land ist emotionalisiert bzw. hysterisiert, aber am Ende ist man wieder dort, wo man angefangen hat ?

Im Unterschied zum radikalkonfliktdemokratischen Wahlsystem, das wir jetzt haben, wäre ein Kollektivorgan Staatsoberhaupt ähnlich der Schweiz, konsensueller und die Wahlkämpfe sachlicher. Dann würden auch Aufforderungen zu Wahlmanipulation unterbleiben.

Das Kollektivorgan Staatsoberhaupt (ähnlich dem Nationalratspräsidium, das jetzt schon die Aufgaben des Staatsoberhaupt ersatzweise erfüllt), könnte entweder aus Vertretern der drei bis sechs stimmenstärksten Parlamentsparteien parlamentarisch bestimmt werden, oder aus den Vertretern der drei bis sechs erfolgreichsten Kandidierenden (u.U. nach Borda-Punkte-Wertung) bei einem einzigen Bundespräsidentschaftswahlgang ermittelt werden.

Auch wäre Kollektivorgan Staatsoberhaupt - neben Reihungswahlrecht oder STV - eine Möglichkeit, das BPräsWG zu verbessern und die Anpassung an das Vielparteiensystem vorzunehmen, die in den letzten 30 Jahren verabsäumt wurde.

Als Wahltermin könnte ich mir auch z.B. den 14. Jänner vorstellen (die Parlamentarier scheinen nicht gerade Experten in Sachen Wahlsystemlehre zu sein). Besser ein ausführlich diskutiertes und gut gemachtes Gesetz statt eine Husch-Pfusch-Reparatur, die die Probleme nicht löst und erst recht ein beschädigtes Land und einen beschädigten Präsidenten erzeugt und sehr anfällig ist für Anfechtungen. Mit einer Totalreform des BPräsWG müssten wohl auch die Wählerevidenzen aktualisiert werden, um den neu hinzugekommenen Jungwählern das Wählen zu ermöglichen.

Und: es geht nicht darum, dass jeder bzw. jede wählen kann, sondern es geht auch und sehr wesentlich um die "Reinheit der Wahl", um die Freiheit von Manipulationen. Aber wegen der "Irrtumsbewirkung" im ersten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl kann von Manipulationssicherheit absolut keine Rede mehr sein, völlig egal, wie man den zweiten Wahlgang gestaltet.

Daher zurück zum Start. Totalreform des BPräsWG und von Anfang neue und manipulationssichere Präsidentenwahl!

Alles Andere würde Österreich wohl zum Schildbürgerstaat machen.

Einige Rechenbeispiele, die über die Problematik des jetzigen Gesetzes Auskunft geben, sowie eine Analyse der französischen Präsidentschaftswahl 2002 (Chirac-Le Pen in der Stichwahl) in einem nun schon fast ein halbes Jahr alten Blog von mir:

https://www.fischundfleisch.com/dieter-knoflach/unser-extremismusfoerderndes-und-manipulationsanfaelliges-praesidentenwahlsystem-18790

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