"Wahlkampf ist die Zeit der fokussierten Unintelligenz", sagte der frühere Wiener Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) einmal.

In der Spieltheorie, einer mathematischen Disziplin, die sich beispielsweise auch mit dem Gefangenendilemma beschäftigt, nennt man genau das einen "Konflikt zwischen individueller Rationalität und kollektiver Rationalität".

Das heisst: was vernünftig für jede einzelne Partei ist (um Stimmen zu maximieren), ist meist zerstörerisch für den Gesamtstaat.

Im Gefangenendilemma (prisoners dilemma) wird dieser Konflikt zwischen dem, was gut ist für den Einzelnen und dem was gut ist für die Gesamtheit, durch eine simple Auszahlungsmatrix symbolisiert:

Zwei Spieler A und B haben die Entscheidungsfreiheit, miteinander zu kooperieren oder auch nicht:

Wenn Einer sich kooperativ verhält, aber der Andere nicht (sondern sich "defektiv", "verräterisch" oder "ausbeuterisch" verhält), so erhält der Ausbeuter z.B. 3 Punkte und der Ausgebeutete 0 (Null) Punkte, beide in Summe also 3 Punkte.

Wenn beide sich kooperativ verhalten, erhalten beide je 2 Punkte, beide zusammen also 4 Punkte.

Und wenn beide sich unkooperativ verhalten, also z.B. versuchen, den anderen auszubeuten (was in der Parteiensprache heisst, anderen Parteien Wähler oder Wählerinnen wegzunehmen zu versuchen), dann erhalten beide je einen Punkt, beide zusammen also 2 Punkte.

Als Auszahlungsmatrix gilt also:

A/B C D

C 2/2 0/3

D 3/0 1/1

(wobei A und B für die Spieler steht, C für Cooperation und D für Defektion, Verrat oder Ausbeutungsversuch)

Individuell ist es immer vergleichsweise vorteilhaft, zu defektieren: individuell bekommt man dann einen Punkt mehr, als man durch Kooperation bekommen würde (3 statt 2 im Fall, dass der Andere kooperiert; 1 statt 0 im Fall, dass der Andere defektiert), aber kollektiv ist dieses Verhalten desaströs, weil sich dann die schlechteste Kollektivsituation ergibt, nämlich der Fall, dass beide sich unkooperativ verhalten und damit die schlechteste Gesamtauszahlung (2 statt 3 oder 4) erreichen.

Demokratische Politik ist insbesondere in Wahlkampfzeiten genauso: die verschiedenen Parteien versuchen sich gegenseitig mit teuren Wahlkampfgeschenken und -versprechen zu überbieten (z.B. Pensionserhöhungen, staatlicher Ersatz für Alimentenzahlungen durch zahlungsunfähige oder flüchtige Väter, etc.), was auch zum Staatsbankrott (zu Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit eines Staates) oder zu großen Finanzkrisen wie der von 2008 führen kann, oder dazu, dass nach der Wahl eine vor der Wahl verschwiegene unausweichliche Steuererhöhung (oder Leistungskürzungen) zur Finanzierung der Wahlkampfversprechen gemacht werden muss.

Der jetzige Bundespräsident Van der Bellen nannte das einmal den "Deppenzyklus" in der Politik: um die "Deppen" als Wähler gewinnen zu können, gibt es durch die "Deppenpolitiker" beständig ein Wechselbad aus teuren Wahlgeschenken vor der Wahl und drastischen Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen zur Finanzierung der Geschenke nach der Wahl.

Dieser ewige Zickzackkurs der Politik erhöht die Politikverdrossenheit und führt - großteils zu Recht - dazu, dass ein großer Teil der Wählerschaft Politiker für Gauner und Betrüger hält, die künftige Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen verschweigen und vertuschen. Und diese gesunkene Glaubwürdigkeit der Politik macht Demokratien auch vielfach unfähig, Probleme zu lösen.

Nicht nur das: der Wahlkampfpopulismus nach geplatzten Koalitionen führt nicht nur zu teuren Gesetzen, sondern auch zu eine großen Antragsflut, wobei die Anträge soviele sind, dass sie gar nicht mehr ausreichend durchdiskutiert werden können, sondern im Husch-Pfusch-Abstimmungsverfahren entschieden werden müssen und dass viele Abgeordnete nicht einmal genau wissen, worüber sie eigentlich abstimmen. Was sich ergibt, sind oft "Zufallsmehrheiten", Mehrheiten, die sich nicht ergäben hätten, wenn länger diskutiert worden wäre.

Die jetzige politikunerfahrene Bundeskanzlerin Bierlein zeigte sich in Interviews überrascht von der Vielzahl der Anträge im Parlament, aber jeder, der von Politik auch nur ein bisschen versteht, kannte das Phänomen aus früheren Phasen geplatzter Koalitionen.

Aber der Finanzminister, den sie ausgewählt hatte, wies wenigstens auf die hohen Kosten der jetzt vor der Wahl schnell hingepfuschten Gesetze hin.

CC / Werner / Tsui https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Van_der_Bellen#/media/Datei:Alexander_Van_der_Bellen_2016.jpg

Wahlkampfpopulismus: hatte der jetzige Präsident Van der Bellen recht, als er im Jahr 2008, nachdem eine rot-schwarze Koalition geplatzt war, meinte, demokratische Politik werde vom "Deppenzyklus" bestimmt, von einer ständigen Wiederkehr von Wahlgeschenken vor der Wahl und Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen nach der Wahl ?

CC / Morgenbesser https://en.wikipedia.org/wiki/Brigitte_Bierlein#/media/File:2015-04-28-BrigitteBierlein.jpg

Wie politisch ahnungslos kann eine Bundeskanzlerin eigentlich sein ? Brigitte Bierlein zeigte sich in Interviews "überrascht über die Antragsflut", obwohl man genau dasselbe Phänomen schon seit vielen Jahren und Jahrzehnten beobachten kann.

Aber Österreichs FakeNews-Medien loben die Innovation ihrer Rüschenhemdchen, oder so.

https://tvthek.orf.at/profile/ZIB-2/1211/ZIB-2/14016702/Kanzlerin-Bierlein-War-ueberrascht-ueber-Vielzahl-an-Antraegen/14512731

Was mich auch stört an diesem Interview: dass sie die Gewaltentrennung in Exekutive, Legislative und Judikative nicht einmal als Argument anführte, das gegen ihre Kanzlerschaft sprach, bzw. dagegen, dass sie als (Ex-)VfGH-Richterin das Angebot von Van der Bellen annimmt. AUch das mit der "bewährten Verfassung" kann man durchaus auch anders sehen.

Das Pferd, das der frühere altrömische Cäsar Caligula (12-41 anno domini) einmal zum Regierungschef machte, hätte in diesem einen Aspekt nicht ahnungsloser sein können.

Politikunfähige Austro-Medien: Rüschenhemd und Spitzenkleid der Kanzlerin sind Thema, ihre politischen Fehler und Unerfahrenheiten nicht.

Den Wahlkampfpopulismus, der jetzt wieder grassiert und der nach der Wahl sowieso wieder zurückgedreht werden muss, auf die eine Art (Steuererhöhung) oder auf die andere Art (Leistungskürzungen), wäre vielleicht zu verhindern, wenn es eine Schuldenbremse (vielleicht nach Schweizer Vorbild) oder einen Government Shutdown (ein fast völliges Stillstehen des Staatsbetriebs unter gewissen Budgetbedingungen) nach US-Vorbild geben würde.

Eine der Grundlagen für den Government Shutdown in den USA ist der Antideficiency Act.

Ausgenommen vom Government Shutdown sind nur Armee, Gerichte und Staatsanwaltschaften, Polizei, Post und Social Security, wobei auch die Bediensteten dieser Staatskörper in der Zeit des Shutdown nicht bezahlt werden, sodass die Gefahr besteht, dass sie den Staatsapparat verlassen, was wiederum den Druck auf die Parteien, eine Einigung zu erzielen, erhöht.

https://kurier.at/politik/ausland/government-shutdown-der-us-regierungsstillstand-und-die-folgen/307.760.487

Dieser Kurier-Artikel (also in einer Zeitung, in der man aufgrund ihrer Geschichte - 1946 von der US-Besatzungsmacht bzw. -befreiungsmacht gegründet - eher Pro-Amerikanismus vermuten könnte oder sollte) fokussiert auch auf die negativen Aspekte des Shutdown und verschweigt bzw. unterbetont die positiven Aspekte eines solchen Shutdown, wie Populismusverhinderung, Staatsverschuldungsverhinderung und Erhöhung des Kostenbewußtseins nach dem angelsächsischen "There is no free lunch" (frei übersetzt: "Im Leben gibt´s nichts gratis" )

Das Fehlen von Schuldenbremsen oder ähnlichem in der österreichischen Verfassung kann man ebenso wie andere Missstände in der Verfassung (das Fehlen von Sanktionen beim Verfassungswidrigen Verschieben von Budgeterstellung auf einen Zeitpunkt nach Landtagswahlen; die Nichtberücksichtigung von Situationen mit hohen Wechselwähleranteilen; die Unklarheit vieler Formulierungen, ob sie denn Pflicht oder Recht bedeuten, etc.) als Verfassungsmängel betrachten, die zu einer Verfassungsreform in Österreich führen müssten.

Frankie goes to Hollywood (FGTH): "When two tribes go to war, one single point is all you can score".

Sie meinten zwar nicht zwei politische Parteien oder Lager, die wie in meinem Gefangenendilemma nur einen Punkt erreichen (den bei Doppel-Defektion), sondern die Supermächte, aber sie hätten politische Parteien und Lager meinen können, die nur einen Punkt scoren, obwohl sie mehr erreichen können.

Die Demokratie als irrationalen Stammeskrieg zu betrachten, der weit suboptimale Ergebnisse ergibt, entspricht vielfach ganz der Realität.

Mit ihrer Einschätzung des Kalten Kriegs der 1980er Jahre hingegen dürften FGTH nicht recht gehabt haben: die Politik von Ronald Reagan bzw. seiner Administration mit NATO-Nachrüstung und Star Wars/SDI dürfte zum Untergang der Sowjetunion und zu einer neuen, besseren Weltordnung maßgeblich beigetragen haben, auch wenn FGTH als Teenie- und Twen-Band von Realpolitik und Geschichte wohl keine Ahnung hatte und haben konnte.

Zeitgenossen von FGTH mit gutem Synthie-Pop bzw. Post-Punk: New Order (die neue Weltordnung; klingt fast so, als ob sie den Untergang der Sowjetunion geahnt hätten, dürfte aber eine Anspielung auf die Neugründung nach einem Tod eines Mitglieds von Joy Division gewesen sein)

"Blue Monday" von New Order ist die weltweit meistverkaufte Vinyl-Maxisingle der Geschichte.

Pixabay Licence / Ryan McGuire https://pixabay.com/de/photos/argument-konflikt-kontroverse-238529/

Durch Konflikt und Wahlkampf können einzelne Parteien profitieren, aber die Folgen für den Staat können oft verheerend sein bis hin zum Staatsbankrott.

Es stellt sich auch die Frage, ob der in Österreich übliche Wahlkampfpopulismus überhaupt EU-kompatibel ist oder ob Österreich deswegen aus der EU ausgeschlossen werden müsste wegen Verletzung der Maastricht-Kriterien, die zu hohe Neuverschuldung verbieten.

0
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
0 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Noch keine Kommentare

Mehr von Dieter Knoflach