Die wahre Problematik der obdachlosen Menschen: Soziale Scheu bis in den Tod

Viel wird angesichts des massiven Kälteeinbruchs in Europa wieder über die Obdachlosen geschrieben und so mancher beruhigt sein schlechtes Gewissen, indem er auf Notschlafstellen und überhaupt auf das Elend dieser Menschen hinweist. Das ist natürlich legitim und sinnvoll, ändert aber nur wenig am Problem, kratzt höchstens ein wenig an der Oberfläche.

Viele Menschen in helfenden Institutionen sind schlichtweg scheinheilig. Sie helfen, ohne zu wissen, dass sie Teil des Problems sind. Das gibt ihnen ein gutes Gefühl, bekämpft aber nur die Symptome, nicht die Ursachen einer Krankheit, an der wir als Kollektiv leiden.

Der Obdachlose, der Suchtgiftkranke, der Kriminelle - jeder Mensch am Rande der Gesellschaft kommt ursprünglich aus unserer Mitte. Er wurde von uns zu dem gemacht, was er ist

- er wurde an den Rand gedrängt. Er ist ein "Randmensch" geworden.

Es ist das ewige Ringen zwischen den Starken und Schwachen der Gesellschaft. Es muss jene in der Mitte und jene am Rand geben. Das Rad läuft sonst nicht.

Die Existenz eines Menschen am Rand der Gesellschaft ist nicht das eigentliche Problem. Viele Randmenschen finden durchaus ihr kleines Glück. Manche finden am Rand sogar ein großes Glück: Die Freiheit von den Fesseln einer doktrinär verordneten Normalität.

Die eigentliche Tragödie liegt im nicht folgerichtigen Denken des Kollektivs. Das Kollektiv in der Mitte meint, stark zu sein. Das ist ein Trugschluss. Das Kollektiv als solches mag vielleicht stark sein, die Individuen in der Mitte aber sind schwach. Sie werden getragen. Schaut man sich ein Rad genau an, dann weiß man, dass das Innere von seinen Rändern her gestützt und gehalten wird. Die Gesellschaft wäre NICHTS ohne ihre Randmenschen. Sie stützen und halten die Mitte, mag das manchem auch noch so absurd erscheinen.

Randmenschen sind stark. Wer von uns in der Mitte der Gesellschaft hätte das Herz, bei 20 Minusgraden draußen im Schlafsack zu schlafen? Keiner! Das schaffen wir nicht!

Früher war ich beseelt von der Idee, Obdachlose aus der Kälte der Nacht in die warme Stube zu holen. Doch mehr als Essen und Trinken, ein paar Zigaretten, ein paar neue Kartons als Unterlage für den Schlafplatz wurde selten angenommen.

So mancher Obdachlose geht lieber in den Tod als in die Häuser jener, die ihm das angetan haben - ein solches Leben führen zu müssen. Einer "unserer" Obdachlosen starb, in Lumpen und Decken gehüllt, in einer Winternacht im Freien, obwohl unsere Haustür für ihn offenstand. Wir erfuhren nie, ob er erfroren war oder ob ihn jemand getötet hatte. Er war einfach nur tot, tot wie nie existent, und der große, hässliche Wagen kam ihn holen. Wer war er? Niemand wusste es. Doch einmal musste er in unserer Mitte gelebt haben. Er sprach gepflegtes Deutsch und war sehr belesen.

Heute gehe ich keine Obdachlosen mehr suchen. Ihre soziale Scheu ist ebenso entmutigend wie die soziale Kälte, die sie an den Rand trieb. Ich würde nicht mehr wissen, wem ich helfen soll. Soll ich dem   Menschen draußen im   Schlafsack helfen   oder dem Menschen drinnen in seinem Daunenbett? Ich weiß es nicht mehr. Es vermischt sich. Vom Menschen im Schlafsack weiß ich, dass er stark sein und verzeihen kann. Er kann die Hilfe derer annehmen, die sein Leben zerstört haben - wenn er es denn möchte. Dann kennt er auch den Weg in die Wärme.

Vom Menschen im Daunenbett weiß ich das nicht. Kann dieser Mensch, der in Daunen schläft, sich denn selbst verzeihen? Oder wird es ihn unter seiner warmen Decke ewig frieren? Auch das weiß ich nicht. Die Daunendecke kann schon morgen zum Schlafsack werden und der Schlafsack zur Daunendecke. So erzählt es das Leben immerfort..

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