Jedes Jahr zu Weihnachten stellt meine Schwester im Schmücken des Hauses einen neuen Weltrekord auf. Blinkende Weihnachtsmänner, sich im Kreis drehende Engel, flackernde Kerzen, singende Rentiere, blendende Lichterketten - es ist eine Welt, die unwirklich scheint und doch so wahr ist. Traurig wahr, wie ich meine. Ich denke mir längst meinen Teil über das ausschweifende   Schmücken des Hauses. Bringe ich einen Weihnachtsengel mit, über den ich zufällig gestolpert bin, küsst meine Schwester mich, als wäre der Engel aus purem Gold. Dabei ist er doch nur eine Kitschfigur mehr in ihrer Sammlung, eine jener "Jahresendfiguren", wie man das da und dort wieder unromantisch nennt.

Was kompensiert sie nur, wenn sie das Haus in ein zuckendes, flammendes Lichtermeer verwandelt? Nein, einsam ist sie nicht. Familienmitglieder und Freunde sind ausreichend vorhanden.

Heute hätte sich beinahe ein Streit entwickelt, da meine neckische Kritik an dem von ihr produzierten Elektrosmog sie jedesmal in helle Aufregung versetzt. "Es ist doch Weihnachten!" sagt sie dann. Und: "Das ist doch Tradition!"

Heute fragte ich näher nach, was sie denn unter Tradition verstehe. Es kam keine vernünftige Antwort. Man tut es einfach. So ist das eben. Die vielen Lichter mögen die Dunkelheit erleuchten! Es wird von Jahr zu Jahr finsterer, wie es scheint.

Ich erinnere mich an Weihnachten, als es noch heller war, obwohl es das blinkende Plastikzeug noch nicht im Handel gab. Ich stapfte vor Mitternacht in den Stephansdom, weil ich wusste, ER würde dort sein. Ich würde IHN dort sehen. Er würde in irgendeiner der Bänke sitzen und sich in Andacht üben. Ich konnte mit ihm zwar nicht reden, unsere Liebe war geheim. Doch seine Anwesenheit im Dom verwandelte die Orgelmusik in ein Meeresrauschen und wir schwammen auf Poseidons Rücken an einen fernen Strand. Ich war 16 und sehr verliebt. Er war 17 und seine Eltern waren sehr gläubig. Er musste sie in die Mette begleiten.

Für heutige Verhältnisse war der Dom dunkel, fast düster. Die Beleuchtungsmittel waren damals noch andere. Aber die Liebe tauchte den Dom in ein strahlend helles Licht. Keine LED-Lampe des 21. Jahrhunderts hätte mit unserer Liebe mithalten können.

Wenn man liebt, ist die Welt hell.

Wir sind eine Welt ohne Liebe geworden und brauchen deshalb so viel künstliches Licht zu Weihnachten.

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pirandello

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