Ich mochte Sarah. Sie war klug und ein wenig bissig. Auf eine ganz eigene Art nahm sie das vorweg, was ich später einmal sein würde. Wahrscheinlich habe ich sie ein wenig angehimmelt. Wie Mädchen unter ausschließlich Mädchen sich ihre Idole suchen.

Das Erstaunliche war, dass Sarah sich nicht ihrer Besonderheit bewusst war. Sie war klug, aber nicht überheblich. Und manchmal machte es den Eindruck, dass sie sich ihrer wenigen vorlauten Bemerkungen schämte. Hatte sie etwas gesagt, das in unserer "Höheren-Töchter-Schule" als unziemlich galt, wirkte sie zuweilen so, als würde sie diese unbedachten Worte gern zurück holen. Als würde sie dieses unbedachte Selbst nicht mögen. Als wüsste sie es imgrunde besser: Es ist nicht klug, Dinge zu sagen, die zwar richtig sein mögen, die aber niemand hören will. Und sowieso ändern sie ja doch nichts. Warum sich also selbst solche Probleme bereiten?

Wir waren dreizehn und benahmen uns nach heutigem Ermessen normal. Widerspenstig, rebellisch und eine gehörige Portion altklug. In Wahrheit aber verstanden wir nichts.

Ich nehme an, Sarah verstand, gezwungenermaßen, sehr viel früher als ich.

Eines Tages kam sie nicht in die Schule. Und auch nicht am nächsten und übernächsten Tag. Und irgendwann verstand ich, dass sie gar nicht mehr kommen würde. Obwohl ich nicht wusste, warum.

Als wir uns einige Wochen später auf der Straße trafen, war meine Freude groß. Meine Augen begannen vermutlich zu leuchten und mein Mund weitete sich zu einem herzlichen Lächeln. Meine Mutter, neben mir, die die Veränderung in meinem Gesicht sah, folgte meinem Blick. Und sah Sarah. Und Sarah sah meinen Blick. Und beide wussten, was nun folgen würde. Die Eine, auf der anderen Straßenseite, erwiderte mein Lächeln nicht. Ihr Blick schien betrübt, ängstlich gar. Sie schüttelte ganz leicht den Kopf.

Und meine Mutter, die sah, was meine Freude geweckt hatte, griff mich am Arm. Fest. Gewillt, mich mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft zurück zu halten, wenn ich denn losliefe.

Und wirklich konnte ich mich keinen Zentimeter in die gewünschte Richtung bewegen. Im Gegenteil zog mich die Hand meiner Mutter weiter. Sie sagte nichts, aber zog mich. Und in ihrem Blick war Zorn. Warum denn nur versteht dieses dumme Kinde nicht?

Ich habe Sarah nie wieder gesehen.

Und verstanden habe ich erst sehr, sehr viel später. Als die Amerikaner durch Weimar fuhren und willkürlich Deutsche von der Straße auf ihre Lastwagen zwangen. Mit denen sie nach Buchenwald fuhren. Um ihnen ganz genau zu zeigen, wovon nichts gewusst zu haben sie alle beteuerten.

-----------

Dass sie sich noch heute schämen würde, erzählte meine Mutter mir mit über siebzig, kurz vor ihrem Tod. Und sie sagte nicht: "Aber ich war doch erst dreizehn."

1
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Die Tempeltänzerin

Die Tempeltänzerin bewertete diesen Eintrag 01.04.2017 10:01:37

6 Kommentare

Mehr von sisterect