Chinas Chuzpe und der psychologische Egoismus

Reden wir doch mal kurz über die Xinjiang Police Files. Oder besser über die allgemeinen Reaktionen auf deren öffentliche Bekanntmachung – und welche Schlüsse der 0815-Durchschnittsmensch oder zumindest ich daraus ziehe. Kleiner Vorgriff: Es sind Lehren, die ich schon die letzten Jahre hinweg immer mehr verinnerlicht habe und deren Richtigkeit sich Tag für Tag zeigt.

Was mit den Uiguren in Xinjiang passiert, war immer so eine Sache, von der jeder weiß, weil China in dieser Hinsicht halt ein Arschlochverein ist, aber es fehlte halt die berühmte „Smoking Gun“, damit aus 99,9%ig sicheren Mutmaßungen Tatsachen werden. Und jetzt durch diese Veröffentlichung gab es schlussendlich diese letzte Bestätigung.

Die Reaktion des offiziellen Chinas darauf? Am besten mit einem Zitat aus Malcolm in the Middle zu beschreiben: „I expect nothing and I‘m still let down.“ Man könnte natürlich, wenn man sehr optimistisch sein will, die Tatsache, dass sich Oberführer Xi selbst zu Wort meldete, vermuten, dass intern doch mehr Staub aufgewirbelt wurde als nach außen dringt, aber dennoch. Die Reaktion war Chinas typische Go-To-Phrase: sich jegliche Einmischung von jedem in innere Angelegenheiten zu verbitten. Warum finde ich das nun so ungemein unverfroren? Nun… Im Grunde ist es egal, um welches Thema es geht, wird China für irgendetwas kritisiert, wird automatisch zu diesem Totschlagargument gegriffen, das im Selbstverständnis schlicht ausdrücken soll: „Schaut her, ich kann machen, was ich will, mit wem ich es will, wie und wann ich es will und niemand kann mir was, egal wie illegal, verwerflich oder schlecht es ist“, aber gleichzeitig mit der Genervtheit und Aggression, in dem diesem Sätzchen immer vorgebracht wird, bekommt man den Eindruck, dass dies an den offiziellen Stellen halt nicht nur als Ausrede gebraucht wird um nonchalent auf existierende Machtverhältnisse in der Welt hinzuweisen à la: „Wer die Macht hat, hat das Sagen“, sondern tatsächlich selbst geglaubt wird: der von maximalem Egozentrismus getriebene Glaube an den Exzeptionalismus der eigenen Nation/des Staates/des Volkes, der es diesem erlaubt, tatsächlich ohne Konsequenzen alles zu machen, was ihm grad einfallt, weil sie halt sie sind.

Natürlich gibt’s diesen Glauben auch in anderen Gegenden der Welt. Man schaue sich das Manifest Destiny an aus dem sich der amerikanische Exzeptionalismus speist. Du findest es in Religionen, wie etwa in konservativen und orthodoxen Kreisen der drei abrahamitischen Religionen, in denen aus Prinzip davon ausgegangen wird, wegen des richtigen Glaubens besser zu sein als alle anderen.

So weit, nichts Besonderes. Nichtsdestotrotz verärgernd für mich, weil ich diese Art der Überheblichkeit, die rein auf der zufälligen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv nicht ausstehen kann. Du bist nicht gut, nur weil du Ami/Chinese/Jude/Christ/schwarz/weiß/Mann/Frau/etc… bist. Und wenn du dich nur darüber definierst, dass du einer bestimmten Gruppe zugehörig bist, um Stolz zu zeigen, bist du arm dran, weil du offenbar nichts Individuelles hast, was dich von der Masse abhebt.

Bei China liegt dieser Glauben immer noch in der Annahme aus dem Kaiserreich begründet, das Reich der Mitte (so ja auch immer noch der Name des Staates in der Landessprache) zu sein und durch die Vorstellung des Konzepts von tiānxià (dt: alles unter dem Himmel) eine naturgegebene Übermacht-/Herrscherstellung über den Rest der Welt zu haben und natürlich in den nie vergessenen Demütigungen der Ungleichen Verträge Ende des 19. Jahrhunderts, für die immer noch auf Rache gesinnt wird. China ist so eigentlich unglaublich reaktionär (im schlechtesten Sinn des Wortes), im dem Versuch Situationen wieder herbeizuführen die rund 120 Jahre vorbei sind und Vergeltung für etwas zu üben, was heute nur noch im kollektiven Bewusstsein verankert ist, das natürlich niemand mehr von damals lebt.

Die Quintessenz dieser Chuzpe, die China hier in seiner Mischung aus realer Machtstellung, vermeintlichem nationalistischem Exzeptionalismus und egoistischer Überheblichkeit mit seiner unverhohlen angefressenen Art zu reagieren, zeigt, wenn man es in flagranti bei bösen Dingen erwischt, ist Folgende: „Ich bestimme selbst, wie die Regeln einzusetzen sind, aber ganz grundsätzlich: Regeln mögen für Andere gelten, ich bin darüber erhaben, also was erdreistest du dich mich anklagen zu wollen?“

Und ja, Völkerrecht und dazugehöriges wurde so verfasst, dass es (zumindest in der Theorie) supranational gilt, als Kontrolleur der Mächtigen.

Was heißt das in der Realität? Regeln, Gesetze und dergleichen sind (zumindest in der Theorie) so verfasst und gemeint, dass jeder der dagegen verstößt, sanktioniert wird und vor allem, dass es sich nicht derjenige, der den Verstoß begeht, aussuchen kann, ob er nun mit seiner Handlung dagegen verstoßen hat! Aber genau das versuchen jene Staaten, aber auch Einzelpersonen zu machen. Verletzung universaler Menschenrechte in Xinjiang? Das darf man nicht so eng sehen, wir (China) definieren Menschenrecht halt anderes. Es gibt keinen völkerrechtlich anerkannten Kriegsgrund für Russland in der Ukraine?! Naja, aber wir (Russland) sehen halt schon einen, egal, ob der Rest der Welt ihn nicht sehen mag. Aber auch in kleinerem Rahmen: Boris Johnsons Coronapartys? Pfff. Die Bevölkerung muss bei Strafe dies und jenes tun oder unterlassen, in 10 Downing Street gelten diese Beschränkungen nicht. Schlechtes Gewissen, wenn es herauskommt? Nö, eigentlich nicht. Aber wer zum Fick hat uns verraten und wieso erlaubt sich das Parlament und die Öffentlichkeit uns zu verurteilen dafür?! Trumps Pussy-Grabbing? Pfff. Who cares? Er zeigt halt nur, dass er ein harter Macker ist und tut, was er will, wie bewunderswert ist das bitte. Und wieso will ihn dafür jemand verurteilen?! Oder noch so zig viele andere Beispiele, die bekannt und ein noch tieferer Fundus, die unbekannt sind.

Natürlich gibt es genügend Leute, die so eine Art und Weise des Umgangs mit anderen bewundern. Warum? Weil sie selbst kleine Rädchen sind, die das eben nicht machen können oder es sich nicht trauen und sich gut fühlen, wenn sie ein Anhänger jener Leute sind, die es sich trauen, um ein bisschen aus der geregelten Welt auszubrechen. Doch tief innen drin finden sie die Regeln ja doch irgendwo gut finden, sonst würde ja alles auf Chaos hinauslaufen. Dazu weiter unten noch mehr.

Allein in den letzten zweieinhalb Jahren der Coronapandemie wurde dem 0815 Durchschnittsmenschen nahezu jeden Tag klar gemacht, dass alle Tiere gleich sind, aber manche Tiere gleicher als andere. Und… nun ja, Leute wie ich, denken sich dann aber genau das, je öfter sowas vorkommt (Und es kommt oft vor): Auf was hinauf soll ich mich eigentlich an Vorgaben, Gesetze, Regeln halten, wenn die vermeintlichen Vorbilder der Gesellschaft es überhaupt nicht tun? Und ich meine hier nicht Kavaliersdelikte (die auch jeder anders definiert), sondern tatsächlich einfach machen, was ich will. „Die da oben“ tun es ja auch ohne jegliche Bedenken. Und natürlich muss auf das Machtgefälle hingewiesen werden, dass ich nicht China, Trump oder nur der kleinste staatliche Beamte bin, aber allein schon mit der Chuzpe und Einstellung würde man weiter kommen, als sich das wohl viele vorstellen können. Man muss dann natürlich auch eine gewisse Fuck-it-Einstellung gegenüber etwaigen Konsequenzen entwickeln. Denn die potenzielle Strafe ist es, die Leute, die so nihilistisch denken, schlussendlich davon abhält, einen auf Joker aus The Dark Knight zu machen und die Welt einfach nur brennen sehen zu wollen. Weil es den Aufwand doch nicht wert ist. Aber wenn man sich selbst überzeugen kann, dass man der Strafe mit hoher Wahrscheinlichkeit entkommt? Moral ist ja sowieso überbewertet, wenn man sich die Ansichten einiger Mitforisten hier so durchliest. Also, go for it! Ich bin jetzt auch außergewöhnlich und Regeln gelten für alle, nur nicht für mich! HA! Nicht das Verbrechen wird bestraft, sondern das Erwischt Werden – und sieht man sich Chinas Chuzpe an, nicht einmal das.

Denn allein mit der Chuzpe sich hinzustellen und nicht reumütig irgendwas zuzugeben, egal wie offensichtlich es ist, verursacht man bei fast allen Anderen Verwirrung. Bei einigen Leuten – wie bei mir – massive Verärgerung. Man sieht es wieder einmal an den offiziellen Stellungnahmen der Welt, der Politiker. Sowohl zum Ukrainekrieg und auch zu den Uiguren: „Ja, wie konnten sie nur“, „Also sowas darf nicht sein…“ usw, usf… Demonstrative Hilflosigkeit, wenn die anerkannten Regeln nicht nur nicht anerkannt werden, sondern glatt ins Gegenteil verkehrt werden. Was sind vermeintlich allgemein geltende Regeln, Gesetze, Vorschriften dann überhaupt noch wert, wenn sich Leute darüber hinwegsetzen und dann nicht bestraft werden? Kann ich mir das als Präzedenzfall hernehmen? Müsste ja eigentlich gehen. Jeder macht ab sofort mit dem Vorbild der Mächtigen und Reichen nur noch, was er will, handelt egozentrisch ohne Rücksicht auf Verluste oder Mitmenschen und wenn er dies mit genug Eigenüberzeugung macht, wird er auch damit durchkommen.

Wenn man sich so die Standpunkt vieler heute agierender Personen so anhört, die vorrangig durch wirtschaftliche Theorien zu der Ansicht kamen: „Ja, gut so, allein durch Egozentrismus kommt die Gesellschaft weiter“, scheint die Annahme des psychologischen Egoismus, der die Grundlage allen menschlichen Handels darstellt und schlussendlich auch in den Untergang der Gesellschaft führt, weil jeder nur mehr Angst vor seinem Nächsten haben muss, dass dieser ihm aufgrund dessen eigenen Egoismus‘ ausschließlich Schlechtes will, gerechtfertigt. Warum dies unweigerlich in einen Untergang führen muss? Dazu die Fortführung von weiter oben: Wenn jeder rein egozentrisch tut, was er will, ohne Rücksicht auf das Streben Anderer und auf bestehende Regeln, Vorgaben oder sonstiges, die andere über die Gesellschaft und somit über ihn verhängt haben, entsteht Chaos. Die von mir schon oft genannte Anomie – das Fehlen jeglicher Regeln. Diese Tatsache erkannte vor vierhundert Jahren schon Thomas Hobbes, der sie als Grundlage für Leviathan benutzte: Der psychologische Egoismus des Menschen an sich benötigt dementsprechend eine überstehende Macht, die ihm diesen, sofern er über die Stränge schlägt – wenn nötig – mit Gewalt austreibt, um die Entstehung von Chaos und Anomie in einer Gesellschaft zu verhindern. Dies war in Anbetracht der Tatsache, dass Hobbes in einer anderen Zeit lebte als wir heutzutage: der aufgeklärte Absolutismus, der sich in der Folge ja auch durchsetzte. Aus heutiger Sicht natürlich eine Entwicklung, die viel zu wenig weit gehen würde. Etwas, das Rechtsliberalisten und -libertaristen gar nicht gerne hören, basiert ihr Weltbild doch einerseits auf absoluter individueller Freiheit und andererseits auf absolutem Egoismus – also genau das, was laut Hobbes und auch meinen auf ihm aufbauenden Überlegungen schlussendlich nur in den Untergang führen kann. Und doch beherrscht diese Form des Denkens unsere Gesellschaft – als hätte man nichts aus den letzten 400 Jahren lernen können. Wieso ich hier explizit die rechte Ausformung erwähne? Nun, weil der Linksliberalismus/-libertarismus sich zwar auch auf individuelle Freiheit als oberstes erreichbares Gut stützt, aber immer eingeschränkt und je nach Situation flexibel angepasst an die gemeinschaftlichen Bedürfnisse der Allgemeinheit und sich so sowohl zu Freiheit, als auch zu Sozialität bekennt. Best of Both Worlds – aber erfordert immer immense Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Situationen und ist deswegen nicht gut für (parteipolitische) Ideologie geeignet.

Unserer Welt fehlt es heute wie schon zu Zeiten des Englischen Bürgerkriegs England an einer übergeordneten Metainstanz, die im Falle eines Falles über alle drüberfahren kann und muss, damit sie nach den Bedürfnissen der Allgemeinheit richtet, wenn der psychologische Egoismus einzelner Akteure die Gesellschaft bedroht. Und genau das tat er im Falle Chinas und seiner demonstrativen Verachtung für sämtliche gebotene Regeln und zeigt der Weltbevölkerung nur, dass man sich verhalten kann, wie man grad Lust und Laune hat, Regeln überflüssig sind und am Ende alles in Chaos und Zusammenbruch enden wird, wenn das jeder anfängt zu tun.

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