... und annehmen, sie wären dann "die Guten", jene, die Recht und Ordnung aufrechterhalten und sich an Bestimmungen und Gesetze halten. Damit kommt keinerlei subjektives Unrechtsgefühl bei diesen Personen auf, was sie endlos gefährlich macht.

Das Problem besteht darin, dass Regeln/Gesetze/Bestimmungen zumeist schwammig genug formuliert werden, um eine möglichst große Bandbreite an Dingen abzudecken, sodass Interpretationen möglich sind, die dem gegebenen objektiven Kontext widersprechen. Interpretationen, die es radikalen Menschen erlauben, ihre ebenso radikalen Sichtweisen mittels eben dieser offiziellen Regeln als gedeckt, erlaubt und erwünscht anzusehen.

Ich will einige Beispiele dafür bringen - die nicht ursächlich zusammenhängen - wann eine reine Regelvorgabe für die korrekte Auslegung dieser Regel nicht ausreichend ist, weil sie von bestimmten Leuten - aus deren Sicht in bestem Wissen und Gewissen - zum potenziell letalen Schaden für andere Beteiligte missbraucht wird.

1) Polizeigewalt. Der grundlegende Tenor ist in solchen Fällen immer: Opfer der Gewalt bezichtet die Polizei übermäßiger und unnötiger körperlicher Gewaltanwendung. Die betroffenen Beamten wiegeln ab und sagen, alles war rechtlich gedeckt. Beides kann nicht gleichzeitig stimmen. In jüngster Zeit kam es zu zwei erstaunlichen Fällen, die mehr oder minder durch Zufall in ihrer Gesamtheit per Video aufgezeichnet wurden und somit, den tatsächlichen Verlauf der Dinge darstellten. Spoiler: Die Polizisten kommen dabei nicht gut weg. Warum? Weil sie in der Ausübung ihre Tätigkeit von der Verhältnismäßigkeit ihres Tuns ausgehen. Was es nicht war. Weil sie von der Gerechtfertigung ihres Tun ausgehen. Was es nicht war. Und weil sie als staatlich legitimierte Autorität daran gewöhnt sind, mehr oder weniger alles frei machen zu können, weil sie eben staatlich legitimiert sind. Das schafft Probleme. Wie am 8. September 2020 im hessischen Idstein, als Liam Conway seinen Vater nach einem Verkehrsunfall bei der Polizeiwache abholen will. Während der Betroffene davon spricht beim Verlassen der Wache ungerechtfertigt von mehreren Polizisten angegangen, niedergeschlagen und am Boden malträtiert worden zu sein, spricht die Polizei von einem überaus aggressiven Mann, der um sich schlug, einem Beamten Pfefferspray entwenden wollte und sich gegen Zwangsmaßnahmen wehrte. So weit, nichts Neues. Doch Monate später tauchten dazu Videoaufnahmen auf, die verloren geglaubt waren und diese... nun ja... belegen im Großen und Ganzen die Version von Conway. Schuldeinsicht bei der Polizei? Keine. Sie versteift sich darauf, gerechtfertigt gehandelt zu haben, weil sie sich bedroht fühlten und sogar vom Polizeipräsidenten mit: "Solche Situationen sehen nie schön aus, auch wenn sie im jeweiligen Fall geboten, rechtmäßig und unvermeidlich sind" weg-geschulterzuckt versucht wurden. Und auch das Auftauchen des Videos löste das grundlegende Problem nicht. Denn auch die beurteilenden Personen unterliegen denselben Interpretationsmankos wie die Polizei selbst: Wird schon seine Gründe gehabt haben, dass das passiert ist. Verhältnismäßigkeit, Wahrnehmung und dergleichen, die als Voraussetzung für derartiges Handeln gelten, sind nicht bei allen Leuten gleich und radikale Leute neigen zu radikalem Handeln. Eine noch schlimmere Zur-Schau-Stellung dieser Diskrepanz liefert der Tod von Tyre Nichols aus - wie könnte es anders sein - den USA. Erneut das Novum, dass der gesamte Vorgang auf Video festgehalten ist. Sowohl von den Bodycams der Beamten als auch von einer Kamera auf einer Laterne. Was ist passiert? Nichols wurde zu einer Verkehrskontrolle angehalten, wegen "Reckless Drivings". Was im Staat Tennessee ein misdemeanor ist, also ein geringfügiges Vergehen. Jetzt fangt es hier schon an: Die Auswertung der Bodycams gab keinen Hinweis darauf, dass es für die Anhaltung überhaupt einen "probable cause" gab. Während die Polizeisprecher mühsam darauf hinweisen, dass das nicht heißt, es hätte keinen gegeben, spricht dieses Eingeständnis schon Bände. Denn was dieser cause wäre, ist nicht definiert. Nur, was zu passieren hat, wenn er eintritt. Und hier geht das Gesetz fälschlicherweise davon aus, dass alle Leute gleich rational und logisch denken. Aber es gibt Radikale, bei denen das nicht der Fall ist. Die nehmen einen cause wahr, wo keiner ist, glauben sich dann gerechtfertigt und führen eine Amtshandlung durch, wo keine sein sollte. Der Rest des Videos ist davon gekennzeichnet, dass Nichols aus seinem Auto gezerrt und verprügelt wird, wiederum aus denselben fadenscheinigen Argumenten, die die Polizei immer in dieser Konstellation bringt: Diffuses Gefühl der Bedrohung, Glauben an versuchten Widerstand und Griff nach einer Waffe. Das reicht dann immer für eine komplette Eskalation an Gewalt und die Täter fühlen sich - weil sie im Denken radikalisiert sind - vollkommen im Recht. Nichols starb nach dieser Behandlung, die Beamten wurden wegen Totschlags angezeigt. Das Erschreckende ist ja vielmehr, dass die als Heilmittel propagierten Bodycams nichts daran geändert haben, dass Radikale so gehandelt haben. Warum auch? Sie fühlten sich ja vollends im Recht. Sie nahmen ihrem Glauben nach eine Bedrohungssituation wahr und handelten danach ihrem Glauben nach verhältnismäßig. Dass es diese Situation objektiv nie gab und die daraus resultierende Handlung nicht im Geringsten verhältnismäßig war, das ist das Problem der Interpretierbarkeit der Regeln, sodass es auch für Radikale möglich ist, zu glauben innerhalb der Regeln zu agieren.

2) Erfundene Begründungen: Derzeit naturgemäß in aller Munde in Bezug auf die Rechtfertigungsgründe für den Ukrainekrieg von Seiten Russlands. Dazu schwirren genug Diskussionen herum, völkerrechtlich gibt es kein Recht darauf, auf eine diffuse Bedrohung mit einem Angriff zu reagieren. Diffuse Bedrohungen sind ebenso eingebildete Bedrohungen. Ähnlich wie auch in den Fällen der Polizeigewalt, wenn von "aggressivem Verhalten" gesprochen wird, findet sich das auch hier. Das ist keine aktuelle, aktive Bedrohung, auch wenn Radikale das gerne so interpretieren, weil sie daraus eine imaginierte Begründung für ein gewünschtes Verhalten ableiten. Man fühlt sich bedroht und muss präventiv zuschlagen, um dieser eingebildeten Bedrohung zuvorzukommen. Sah man auch gut in den Ereignissen rund um Coronaproteste, die sich dann bis zu einem Mord aufschaukelten. So wie Russland offiziell als Grund von Entnazifizierung und Sicherheitsbedenken durch die NATO schwadroniert, wären dies gute Gründe, wären sie auch außerhalb dieser einseitigen Wahrnehmung ebenso wahrnehmbar. Sind sie aber nicht. Aber es gibt derlei zu Hauf bereits gut aufgearbeitete Fälle, die sich ebenso darstellten: Erfundene Gründe, um Dinge in Gang zu setzen, die vermeintlich den Regeln entsprechen und so den Schein erwecken, als wäre alles rechtlich einwandfrei abgedeckt. Dass es die Gründe für die Ausübung der Folgen nur in den radikalen Hirnen gibt, ist in Analogie zu Polizeigewalt, das Problem der Schwammigkeit dieser Regeln. Der Irakkrieg der Bush-Regierung ist das Paradebeispiel der jüngeren Vergangenheit für so ein Verhalten. Massenvernichtungswaffen wurden erfunden, die einen Grund liefern sollten, einen Krieg zu beginnen, der begonnen wurde und auf internationales Völkerrecht und sonstige Gepflogenheiten wurde geschissen. Warum? Weil man es konnte und sich seine Gründe herbeifantasiert hat. In gleicher Analogie zu Polizisten, die es gewohnt sind, staatliche Autorität zu haben und deswegen gegenüber dem Durchschnittsbürger alles machen zu können, haben Staaten und deren Politiker keinerlei Konsequenzen zu fürchten, wenn sie einfach machen, was sie wollen. Es wird auch hier stillschweigend darauf vertraut, dass integre Menschen mit Gerechtigkeitssinn und Logik an diesen Stellen sitzen und nicht rabiate Radikale, die glauben in Einklang mit den Regeln zu handeln, was sie aber nicht tun, wenn sie sich Dinge aus den Fingern saugen.

3) Emotionale Involviertheit in Ideologien: Je emotionaler radikale Menschen für etwas eintreten, umso eher glauben sie, das, was sie zu bekämpfen zu versuchen, überall zu sehen. Es gibt sowohl wissenschaftlich klassifizierte als auch soziale angewandte Definitionen für Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, usw... Aber, wenn radikale Personen versuchen, diese Definitionen anzuwenden, unterliegen sie ihrer eigenen Radikalität bereits im Vorfeld wie einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung, die Definitionen als erfüllt anzusehen und sich bestätigt zu fühlen - unabhängig davon, ob die Definitionen tatsächlich erfüllt werden oder nicht. Radikale Feministen sehen in grundlegender zwischenmenschlicher Höflichkeit benevolenten Sexismus, gegen den sie aufbegehren müssen, weil sie sich davon unterdrückt fühlen. Dass sie das eigentlich nicht werden, liegt an der Interpretierbarkeit und Schwammigkeit des Regelwerks. Für sie ist alles Sexismus, was ihnen nicht in den ideologischen Kram passt und ihren Augen nach durch die Definition des Sexismus gedeckt ist. Dadurch fühlen sie sich im Recht, sind es aber nicht. Radikale Philosemiten glauben überall Antisemitismus nach den diversen (Arbeits)Definitionen von EUMC, IRHA, JDA et al. zu sehen, obliegen aber der Fehlinterpretation, dass sie bereits ebenso wie radikale Feministen mit der Vorannahme in die Anwendung der Definition gehen, dass es es sich schon um einen zutreffenden Fall handeln muss, sonst müsste man die Definition nicht bemühen. Es ist eine ähnliche Fehleinschätzung der Lage, wie zur Polizeigewalt: Wird schon was gewesen sein, wenn das so gekommen ist, sonst wäre es ja nicht dazu gekommen. Klassischer Zirkelschluss. Für sie ist alles Antisemitismus, was ihnen nicht in den ideologischen Kram passt und ihren Augen nach durch die Definition gedeckt ist. Durch diese radikalen Kräfte werden derartige Regelwerke natürlich ad absurdum geführt, weil sie von falschen - weil radikalen - Grundannahmen ausgehen, die nicht vorliegen. Es ist wie bei den beiden obigen Beispielen: Falsche Wahrnehmung und dadurch ausgelöste unverhältnismäßige Handlung. Amüsant zu sehen wird es, sobald radikale Kräfte, die für verschiedene marginalisierte Gruppen eintreten in ihren Annahmen und Aussagen aneinandergeraten und sich so gegenseitig Dinge vorwerfen und sich auf ihre jeweiligen radikalen Positionen zurückziehen. Bekannt geworden durch mediales Aufgreifen sind hier der Kampf Feminismus vs. Transpersonen durch etwa Joanne Rowling, Alice Schwarzer oder Janice Raymond ("Alle Transsexuellen vergewaltigen weibliche Körper, indem sie die reale weibliche Gestalt auf einen Artefakt, auf ein vom Menschen geschaffenes Objekt reduzieren, um sich dieses anzueignen [...]" ), worauf Transpersonen mit einem Aufschrei reagieren und überall Transphobie sehen. Oder der Kampf Schwarze vs. Juden, wenn etwa Whoopi Goldberg den Rassismus gegenüber Schwarzen als schwerwiegenderes Übel als Antisemitismus bezeichnet, weil sich dort ja nur sinngemäß Weiße gegenseitig den Kopf einschlagen und es nicht um Rasse gehe, was wiederum wenig begeistere Kommentare offizieller jüdischer Stellen nach sich zog.

Das Problem bei all dem ist, dass geglaubt wird, Menschen würden sich vernunftbegabt verhalten, wenn sie versuchen Regeln, Definitionen, Gesetze auszulegen. Tun sie aber nicht. Sie biegen und brechen sie, sodass sie nach ihren verqueren Vorstellungen passen, weil sie eben nicht explizit an bestimmte moralische Komponenten gekettet sind oder explizit Dinge ausschließen, die nicht darunter fallen dürfen, weil davon ausgegangen wurde, dass der normale, vernünftige Mensch nicht auf die Idee käme, diese Vorgaben derart zu pervertieren. Und der Radikale, der glaubt, gut und nach Regelwerk zu handeln, ist eine soziale Gefahr.

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Ttavoc

Ttavoc bewertete diesen Eintrag 29.01.2023 08:53:22

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