Über das Abholen ...

Wann wird die Kindheit verloren? Ein Kind hat genau so große Probleme wie ein Erwachsener, ungeachtet des Standes oder des Vermögens. Während sich ein Bub sorgen muss, ob er Schuhe hat, mit denen er überhaupt spielen beim Samstags-Match spielen kann (weil er sonst nur bloßfüßig gespielt hat) stellt sich für ein Mädchen aus besserem Haus die unauflösliche Frage, ob Nike oder Adidas die trendigere Fußbekleidung ist. Das sind nun die kleineren Fragen. Die wirklichen Fragen beschäftigen sich mit der kindlichen Moral. Es gibt Gebote und Verbote. Man sollte sie ausreizen um die Grenzen kennen zu lernen. Aber dann gibt es auch Sachen, die möchte man wirklich nicht tun. Man hat das Gefühl des Unrechts. Man entwickelt dieses Unrechtsgefühls auch bei den Tätigkeiten anderer.

Noch schlimmer ist das Gefühl von zu erduldender Ungerechtigkeit. Die schlimmsten Strafen können ertragen werden, wenn eine Kausalität erkennbar wird. Die Aufrechnung, heute werde ich bestraft, obwohl ich nichts getan habe, aber dafür bin ich die letzte Woche nie erwischt worden, kann helfen. Sie stellt sich aber erst im Erwachsenenzustand mit der Konsequenz ein, dass Ungerechtigkeit als Lebensbedingung empfunden wird. Schließlich setzt auch das Christentum mit dem Erbsündenkonzept hier voll auf. Die Frage ist, ob der Nutzen dieses Konzepts weniger im Erlösungsgedanken liegt als dass vielmehr der Umstand, dass alle Personen betroffen sind, den Spruch "geteiltes Leid ist halbes Leid" utilitarisiert.

Solange ein Kind bei seinen Eltern lebt, das Alter spielt hier wenig Rolle, gibt es eine Konfliktinstanz, die nahezu alle Ungerechtigkeitsfragen auflösen kann. Fragen nach Sinn und Unsinn werden von einem Elternteil mit derjenigen Autorität beantwortet, die sich der Elternteil kraft seiner eigenen Vorstellung anmaßt, die vom Kind aber sehr lange nicht hinterfragt wird. Das Unterlassen dieser Hinterfragen führt dazu, dass auch Ungerechtigkeiten der Eltern durchaus widerspruchslos hingenommen werden, sofern eben jene Autorität unhinterfragt bleibt. Dieser Mechanismus ist dann richtig, wenn das Kind 5 ist, und ist sicher dann falsch, wenn das Kind 50 ist. Der Zeitpunkt der Loslösung, den einige mit der Pubertät erleben, andere mit dem Auszug von zuhause, bleibt keinem gesunden Erwachsenen erspart. Erfolgt er zu früh, stellt es eine besondere Belastung für das Kind dar. Es muss zu früh erwachsen werden.

Wann ist es zu früh? Es gibt hier keine Altersangabe, denn unter bestimmten Umständen werden Kinder sehr früh erwachsen, wenn der Existenzdruck von außen genügend groß ist. In solchen Fällen, z.B. beim Aufwachsen in Kriegsgebieten, wird allerdings niemand erwarten, dass andere kindliche Funktionen erhalten bleiben. Dankbarkeit den Eltern gegenüber, unkontempliertes sich Freuen Können, Putzigkeit, höfliches Verhalten. Bürgerliches Verhalten im späteren Leben.

Existiert allerdings ein bürgerliches Umfeld, und zwar eines mit dem Anspruch des Bildungsbürgertums, dann wird der Verlust des Kind sein Können mit Sicherheit in einem Ausbruch enden, der sich nicht nur gegen die Eltern sondern auch gegen das dort vorgefundene Umfeld richtet. Damit wird der Konflikt für die Erwachsenen zusehends verstärkt. Die seelische Lostrennung, die noch leicht von den Eltern verdrängt werden kann, geht mit einer öffentlich zur Schau getragenen Trennung und Verweigerung daher. Und das schmerzt. Die Kinder können nicht mehr zur Rechtfertigung der eigenen Leistungsfähigkeit herangezogen werden.

Einen Sonderfall stellt vermutlich der "statuary rape", wie er im angelsächsischen Bereich genannt wird, oder die Schändung dar. Es sollte wohl eher "sexual fraud" oder Betrug heißen, denn Vergewaltigung setzt einen Widerstand voraus, der vom Kind ja gar nicht geleistet werden kann. Die normative Kraft einer Sexualtabuisierung, das Akzeptieren des Sexualverbots aus der Vorgabe der Erziehung steht an sich schon im Widerspruch mit der Loslösung der Kinder von den Eltern. Eine Verführung durch einen fremden Erwachsenen kann eher als eine Unterstützung dieser Loslösung gesehen werden, denn als Angriff auf Tugend und implantierte Werte. Es ist ja noch gar nicht festgestellt, wieweit der Sexualverkehr an sich das Schlechte darstellt. Immerhin gibt es Eltern, speziell Mütter, die ihren Kindern die Pille verschreiben lassen und froh sind, wenn die sexuellen Erfahrungsphasen ohne irreversible Auswirkungen durchgespielt werden können.

Die Problematik liegt vielmehr im Aneinanderprallen von "moralischen" Werten, die von nahezu gleich starken oder mit gleichem Autoritätsniveau behafteten Erwachsenen vorgegeben werden. Der Konflikt, in den das Kind hineingestoßen wird, erhält seine Schwere dadurch, dass gleichzeitig die Hilfen zur Konfliktbewältigung entzogen werden. Bei Annahme eines gesunden kindlichen Bewusstseins hat das Kind eine Entscheidung getroffen. Es ist gut oder es ist nicht gut. Wenn es gut ist, ist noch die Zusatzfrage zu klären, ob es richtig ist oder nicht. In Griechenland wurde die Richtigkeit des Sexualverkehrs zwischen Lehrer bzw. Mentor und Jüngling nicht in Frage gestellt. Daher ist anzunehmen, dass ein Grossteil der damit verbundenen Problemstellungen im Ansatz gelöst waren. Frauen wurden unterschiedlich behandelt, aber hier interessiert nur der Ansatz der kindlichen Moral und da können Burschen genauso exemplarisch herhalten.

Empfindet das Kind die Aktion selbst als gut, vermutet aber, dass sie nicht richtig ist, spaltet sich die Erwachsenenwelt plötzlich in zwei Klassen auf. Den einen darf man sowieso nichts sagen, ganz im Gegenteil wird man zur Verheimlichung gezwungen, die sich auch in der Lebensführung niederschlagen muss. Den anderen darf man nichts sagen, weil Erwachsene unter sich eine Allianz bilden, von der man nie weiß, wie durchlässig sie in bezug auf Informationen ist. Man ist also allein. Sic, man ist kein Kind mehr.

Ist damit das Verlustthema in bezug auf Schändung erschöpft? Ganz und gar nicht. Selbst wenn wir die Frage der Kodependenz auslassen, die Frage, wie eine mitwissende Mutter mit dem Thema umgeht, so sind noch eine Reihe anderer Kinder betroffen, die Geschwister. Für eine allfällige Schwester in ähnlichem Alter muss sich die Frage stellen, ob sie den Richtigkeitskonflikt auflösen kann. Natürlich kann sie das nicht, sie hat noch weniger Handhabe als ihre Schwester. Sie weiß a nicht einmal, ob die Handlung selbst "gut tut" oder nicht. Sie erfährt eher aufgrund ihrer Erziehung, dass die Sexualität abzulehnen ist. Der Konflikt wird noch mit einer Prise Loyalitätsdilemma gewürzt. Wem bin ich mehr verpflichtet, den Eltern oder der Schwester?

Auch hier hört nun das Kind sein auf. Aber es mag Jahre dauern, bis dieser Umstand erkannt werden kann. Ein Leben, welches Jahre in einer falschen, erzwungenen Rolle gelebt werden muss, versäumt Lebenszeit.

(Hans, 19.4.2003)

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