„Ringsum ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse,

Und mit Fackeln geschmückt, rauschen die Wagen hinweg.“

Abend, es wird Abend, und ich bin so müd.

Manchmal, wenn ich die Augen hebe, wenn ich einsam durch die Gassen laufe und die grauen Gestalten mit ihren müden Gesichtern sehe, dann möchte ich schlafen.

Einsam ruhen und vergessen.

Denn ich sehe Menschenopfer ohne Zahl, die abends nach Hause eilen, in ihre leeren Höhlen, um dort hungrig und allein ihre freudlosen Tage zu beschließen.

War das schon immer so?

Ich glaube nicht.

„Satt gehen heim von Freuden des Tages zu ruhen die Menschen,

Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt …“

War es nicht gestern erst, dass wir gemeinsam tanzten?

Dass unsere Herzen gemeinsam sangen und wir alle fest auf unserer Erde standen?

„… fandst du, als Jüngling, doch

In den Tagen der Hoffnung,

Wenn du sangest, das Ende nie?“

Ist das denn so lange her?

Wir haben doch alle nur kurz weggesehen, waren nur kurz abgelenkt. Und plötzlich ist alles verschwunden.

Wie kann das sein?

Wie konnte das so schnell geschehen?

Ich habe Angst.

Angst vor dem, was alles sterben kann.

Angst vor dem, was schon alles verloren ist.

Und ich möchte schlafen und vergessen.

Ich möchte alles schon hinter mir haben.

Denn schlimmer als unser Ende sind all die kleinen Tode, die wir täglich sterben. Der Verlust an Schönheit, der Verlust an Hoffnung und der Schmerz in unserer Seele.

„Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen.“

Die Fahnen, die mir einst so wichtig waren, die ich einst voller Stolz und Mut vor mir hertrug, klirren nun einsam im Wind.

Leblos.

Zerrissen.

Sprachlos und kalt.

Und nicht nur bei mir.

Irgendwann in den letzten Jahren haben wir alle unsere Spur verloren. Haben wir aufgegeben, die Schönheit verloren und sind von unseren Wegen abgekommen.

Auf meinen Fahnen stand die Musik, die Namen der Dichter, all das, was wir in Jahrhunderten aufgebaut haben und das mir immer den Weg gewiesen hat.

Doch heute wehen sie nicht mehr.

Und ich glaube, bald wehen sie für niemanden mehr.

Merkt ihr es auch?

Die Mauern stehen sprachlos und kalt.

Die alten Tempel und Gräber, die Schlösser, Burgen, Kirchen und Museen.

Die Steine, die zu uns sprachen und uns zeigten, wer wir sind.

Aber was machen wir, wenn es Winter wird?

Hinter welche Mauern sollen wir uns flüchten?

Und an welchen Bildern sollen wir uns wärmen?

„Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein

Und Schatten der Erde?“

Die Welt wir immer kälter und ärmer. Und mit ihr gemeinsam auch wir.

Seht doch in die Augen der Menschen, seht die Verzweiflung, ihre Hoffnungslosigkeit und Angst.

Spürt ihr es auch?

Vielleicht stimmt es, was die Dichter sagen. Vielleicht sind wir wirklich ein sterbendes Geschlecht, eine Kultur im fahlen Abendrot des Seins.

„… Willst du im Abendrot

Froh dich baden? Hinweg ists, und die Erde ist kalt,

Und der Vogel der Nacht schwirrt

Unbequem vor das Auge dir.“

Vielleicht ist heute deshalb so viel Trauer? So viel Leid, Verzweiflung, Müdigkeit und Schmerz?

Wer kann schon im Abendrot froh sich baden?

Die Erde wird kalt.

Und die Mauern, die uns schützen sollten, zerbersten in der Kälte.

Manchmal, wenn ich zu träumen versuche, meinen geliebten Schubert höre, in den Büchern von Balzac, von Hesse, Maupassant oder Rilke nach meiner Jugend suche, dann kann ich nur noch weinen und wünsche zu vergehen.

Mir schmeckt diese Welt nicht mehr, in der alles Schöne flieht und die Welt in Dunkelheit versinkt.

„Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,

Der Jugend Stunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,

April und Mai und Junius sind ferne,

Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!“

An manchen Tagen denke ich mir, ich sollte mich ermannen.

Spricht nicht ein Dichter vom Mut der Menschen im Angesicht ihres Endes? Von ihrer Verzweiflung und ihrer Kraft, die daraus erwächst?

Vielleicht sollte ich mein Leben nicht so beenden. Vielleicht sollte ich noch etwas schaffen, etwas Schönes, bevor ich gehe. Der Kunst etwas zurückgeben, etwas von dem Geschenk, das sie mir gab.

Ich wünschte mir, nur einmal noch die Kraft aufzubringen, unserer Kultur wenigstens ein Staubkorn von dem zurückzugeben, was sie mir war.

Damit die Mauern noch eine Zeitlang halten.

Dann könnte ich in Frieden gehen.

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